Peter Paul Wiplinger (Österreich), Schriftsteller und künstlerischer Fotograf. Geboren 1939 in Haslach, Oberösterreich. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie. Vorwiegend Lyriker. Seine Gedichte wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und als Gedichtbände publiziert. Bisher 47 Buchpublikationen, zuletzt: „Tagtraumnotizen“ (2016) und „Schachteltexte“ (2017). - Weitere Informationen: www.wiplinger.eu

 

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DAS GRAUENHAFTE BEDENKEN!

 

Wie kann man ein solches Gedenken gestalten, wie kann man das machen: der Millionen Toten, der Ermordeten, jedes menschlichen, nein: jedes un-menschlichen Einzelschicksals gedenken, ohne daß dieses Wie-auch-immer-Gedenken ins Plattitüdenhafte abgleitet oder abstürzt? Wie und vor allem warum sollte es ein solches Gedenken geben, wie lange noch, von wem für wen auch immer; und welchen Sinn sollte ein solches Holocaust-Gedenken haben? Und schließlich: Ist ein solches Gedenken, ein Bedenken des Grauenhaften und des Zusammenbruchs jeder menschlichen Zivilisation, verbunden mit unermeßlichem Leid und der Aufgabe letzter menschlicher Würde und Humanität überhaupt möglich? Es steht die Frage vor uns: Kann man ein Denken, ein Bedenken, ein Gedenken in diesem Zusammenhang überhaupt leisten, eines, das den Tätern wie den Opfern, das der Maßstablosigkeit solcher Ereignisse wenn schon nicht gerecht werden so doch zumindest ansatzweise entsprechen kann? Fragen über Fragen, die einen beim Bedenken sogleich in einen Gedankenwirbel hineinziehen, der uns mitreißt; und an dessen Ende möglicherweise die Resignation steht.

 

Nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben sei Barbarei; so ähnlich hat es Adorno gesagt. Und ich habe ihm in und mit einem Auschwitz-Gedicht widersprochen. Und habe dann ein Leben lang Gedichte geschrieben, auch und vor allem Gedichte, die sich mit dem Holocaust, mit dem Genozid, mit Haß, Gewalt und Tod befaßt haben. Und ich war – vor allem emotional – davon überzeugt, dies tun zu müssen, ganz besonders, nachdem ich das ehemalige KZ Mauthausen in meiner Heimat und das in der Ferne liegende Auschwitz besucht hatte. Ich konnte und kann bis heute nicht genau sagen, warum ich diese Verpflichtung spürte und angenommen habe, mich diesem Thema zu widmen, noch dazu mit dem Gedicht. Aber es war eben so, daß ich fühlte, daß man den Holocaust, daß man Auschwitz und Mauthausen, Sobibor und Bergen-Belsen, Gusen und Theresienstadt, das Ghetto von Warschau und Lodz nicht einfach wegschieben kann und ohne jemals noch daran zu denken, sein Leben ungestört leben kann und darf. Nein, das war doch eine Menschheitszäsur, und da ist ein unsichtbarer aber trennender Graben da zwischen dem Heute und dem Damals; und zwar für die ganze weitere Menschheitsgeschichte seither. Und ich kramte aus meinem Denken und Gehirn schließlich die „Utopie Hoffnung“ von Ernst Bloch hervor; als Mahnung und Auftrag zugleich. „Nein, Resignation ist keine Option für die Zukunft, für die menschliche Existenz überhaupt“ – sagte ich in Rom an einer Universität zu jungen Studentinnen und Studenten. Und das war es.

 

Aber wie können wir, die wir im eigentlichen Sinne von dieser Wirklichkeit des Holocausts gar nicht persönlich betroffen waren und sind, an einem Holocausttag der Opfer des Holocaust gedenken? Dies in Österreich, das nach jahrzehntelanger Geschichtsauffassung das erste Opfer war. Wie können wir in Trauer und Würde gedenken bei gleichzeitigem unbegreiflichen Zynismus, der dann in diesem Land geherrscht hat, dadurch daß ehemalige Täter – ja Mörder und nicht Mitläufer – nachher angesehene Bürger und honorige Persönlichkeiten waren, die unbehelligt leben und weiter Karriere machen konnten (Primar Dr. Gross)? Wie war das nur möglich – politisch, menschlich? Ja, es war eben möglich. Genau da könnten und müßten wir schon ansetzen mit dem Bedenken an einem Holocaust-Gedenktag. Denn das wäre eine für alle Menschen, ob jung oder alt, verbindliche Aufgabe. Wie war es möglich, daß es damals zur gleichen Zeit Fröhlichkeit und Grauen gab, daß in Auschwitz die Krematoriumsöfen rauchten, schwarzer Rauch von verbrannten Menschenleibern zum Himmel stieg und zugleich Beethovens Symphonie mit Schillers Ode an die Freude im Wiener Konzerthaus erklang und die Menschen berührte; auch jene Menschen, die in Uniform und mit schwarzen Stiefeln und Kappe auf dem Kopf, womöglich noch mit einem Totenkopf darauf, im Publikum saßen.

 

Wie soll, wie kann ich heute als im 84. Lebensjahr sich befindender Dichter oder als einfacher Mühlviertler-Mensch über den Holocaust sprechen, wo ich doch damals keine Ahnung davon hatte und davon nichts spürte, außer daß ich vielleicht bemerkte, daß plötzlich Menschen aus unserem Ort verschwanden und nie mehr wiederkehrten. Ja, man kann denen ein Gedenken widmen, man kann eine Gedenktafel mit ihren Namen und einer kurzen Erklärung dazu anfertigen und irgendwo, am besten beim Kriegerdenkmal, anbringen, so wie ich das in meinem Heimatort Haslach initiierte und realisieren konnte; aber ist das genug? Nein, genug ist es nicht. Aber auf jeden Fall erforderlich. Auch als Zeichen dafür: Wir haben Euch nicht vergessen! Euch, die ihr von unseren Vorfahren ermordet und vertrieben worden seid. Euch, die ihr ausgelöscht wurdet samt eurem Glauben, eurer Kultur, eurer Lebenskultur. Euch, die ihr jahrelang aufs Unmenschlichste gepeinigt, erniedrigt wurdet: weil ihr, wie man sagte, „anders gewesen seid“ als die Herrenrasse, als die Volksgemeinschaft. Oder weil ihr Andersdenkende gewesen seid.

 

Und da schleichen sich ins Denken und Reden Vokabel ein, die heutzutage keine jungen Menschen mehr kennen, schon gar keine mit „Migrationshintergrund“, die zwar wissen, wo der Grand Prix oder die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird, denen aber das Wort Auschwitz nichts sagt. Und die meisten Alten sagen dann vielleicht „Ja, ja, das war alles einmal. Das war unter den Nazis; eine schreckliche Zeit.“ Und wieder einmal ist die Zeit schuld an etwas, das sie nicht verbrochen hat. „Die dunkle Zeit“ nennt man das dann. Man spricht nicht von der grauenhaften Unmenschlichkeit des Menschen.

 

Wenn es in einem bekannten Schlagertext der österreichischen Musikgruppe EAV heißt: „Denn das Böse ist immer und überall“, dann ist das nicht nur ein Text zur Volksbelustigung, sondern dann ist das vielleicht in zufälliger Kombination mit dem Ausspruch des Präsidenten des russischen Parlaments, der Duma, „in der Ukraine würde erst Frieden sein, wenn dort alle Menschen erfroren wären“ schon eine Aussage von  unbegreiflicher Unmenschlichkeit; ohne daß man hier den Holocaust andenken darf, weil man ihn auch da und überhaupt nicht mit irgend etwas vergleichen darf, weil es nichts Vergleichbares gibt.

 

Aber das Abgrundhaft-Böse, zu dem der Mensch, der später angesehene Ehrenbürger fähig ist, das sollte jedem zu denken geben, auch in Hinblick auf die Frage, was wir tun können und tun müssen, damit der Mensch nicht in seine eigene Abgrundtiefe einer enthumanisierten Existenz abrutscht bzw. abstürzt.

 

Und da es keine wirkliche „Vergangenheitsbewältigung“ gibt, sondern dies nur eine plattitüdenhafte Formulierung ist, die schon wieder einmal Gegenwart und Zukunft nicht inkludiert, sollten, nein: müssen wir uns nicht nur fragen, was jetzt zu tun ist, um uns vor dem Bösen zu schützen, daß wir nicht angreifbar werden für Verharmlosung, für verlogene Parolen und Propaganda, sondern daß wir alle, vor allem jene, die zukunftsorientiert und Zukunft gestaltend sind, also die Jugend, reif sind für kritisches, auch selbstkritisches Denken und ein daraus abgeleitetes Verhalten. Führung darf nie mehr zur Verführung werden. Wirklichkeit muß als solche in ihrer Konkretheit erkannt und bewertet werden. Wirklichkeit von Menschen, ihrem Denken und Handeln, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.  Ein Holocaust-Gedenktag könnte, ja müßte eigentlich damit – mit diesem Umdenken – beginnen. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ heißt ein berühmt gewordener Satz der großen österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann. Ein solcher Satz widerlegt Adornos apodiktisches Statement bezüglich Auschwitz und Gedichte-Schreiben, also die Metapher vom Weiterleben nach Auschwitz. Aber selbstverständlich muß dieses Weiterleben, muß das weitere Leben nach Auschwitz ein anderes sein als vorher bzw. als hätte es Auschwitz nicht gegeben. Das ist es, was wir in seiner ganzen Dimension denken und vermitteln müssen. Und dies immer und überall; und nicht nur am heutigen Tag.