Aurelia Merz (Österreich) schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, sie lebt und arbeitet in Wien.

 Deutsch

 

 

GEETA

 

 

Geeta stöhnte leise auf. Die Bewegung war zu abrupt gewesen und jetzt spürte sie wieder den Schmerz in ihrer linken Schulter, der sie schon seit Wochen quälte. Sie legte das Wäschestück beiseite, tastete mit der rechten Hand nach der schmerzenden Stelle und versuchte, durch Druck den Schmerz ein wenig zu lindern. Sie richtete sich dabei aus ihrer gebückten Haltung auf, ließ den Blick umherschweifen, über das grünliche Wasser des Flusses, zum gegenüberliegenden Ufer, zu den Tamarinden- und Mangobäumen und den hübschen Häusern, in denen Menschen wohnten, die es im Leben besser getroffen hatten als sie. Sie war eine Dalit, hatte kaum die Schule besucht und mit 11 Jahren zu arbeiten begonnen. Als sie gerade einmal 16 gewesen war, hatte sie ihr Vater verheiratet. Dabei hatte sie es nicht schlechter getroffen als die meisten Geschlechtsgenossinnen ihrer Kaste. Immerhin versuchte ihr Mann Ravi wenigstens, Geld zu verdienen. Wenn er allerdings mehrere Tage lang keine Arbeit finden konnte, wurde er wütend, begann zu trinken und schlug sie und die Kinder.

 

Mit einem Seufzer ließ Geeta ihre Schulter los, fischte ein weiteres Wäschestück aus ihrem Kübel, und nachdem sie es ein wenig ausgewrungen hatte, begann sie, es mit gleichmäßigen Bewegungen gegen eine Steinstufe zu schlagen. Es war anstrengend, auf diese Weise die Wäsche für sich selber, den Ehemann und die vier Kinder sauber zu bekommen. Und wenn diese Arbeit endlich getan war musste sie überlegen, womit sie am Abend die Bäuche ihrer Familie einigermaßen füllen konnte. Geld war in diesen Tagen wieder einmal sehr knapp, und die paar Rupien, die sie beiseite gelegt hatte, würde Ravi wohl inzwischen gefunden und in deshi umgesetzt haben.

 

Später am Abend ging sie noch zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen, und wie an manch anderen Abenden traf sie dort auf Heema, die in einen neuen, himmelblauen Sari gehüllt war und an ihren Haarsträhnen herumhantierte, während sie darauf wartete, ihren Messingeimer füllen zu können. Heema war eine hijra und, wie zumeist, war sie zum Plaudern aufgelegt, wobei ein Thema regelmäßig zur Sprache kam: Heemas Bedauern darüber, nicht als Frau geboren worden zu sein. Geeta schüttelte regelmäßig verständnislos den Kopf. „Bist du blind? Siehst du denn nicht, wie es uns geht? Wir schuften tagaus tagein , um unsere Kinder zu ernähren, während sich unsere Männer betrinken! Dafür beneidest du uns? Ich wünschte, ich wäre ein Mann!“ rief sie diesmal heftig aus. „Du verstehst nicht“, sagte Heema leise. „Ich hätte so gerne ein Kind, dafür würde ich alles geben. Aber Männer und hijras können keine Kinder bekommen…..Habe ich dir übrigens schon die Geschichte von der hijra erzählt, die täglich zu Shiva gebetet hat, um doch schwanger werden zu können?“ fragte sie Geeta. Diese nickte müde. „Ja, hast du“. „Aber ich kenne sie nicht“, mischte sich Shanti ein, die ebenfalls wartete und das Gespräch mitgehört hatte. „Nun“, wandte sich Heema Shanti zu und war offensichtlich zufrieden, weitererzählen zu können, „diese hijra ging jeden Tag zum Shivatempel, opferte dem Gott Kokosnüsse und Blumen und flehte um ein Kind“. „Ohne Mann?“ fragte Shanti vorwitzig und Heema sah sie verwirrt an. Dann lachte sie. „Nein, nein, natürlich hatte sie einen Mann“. „Wahrscheinlich mehr als einen,“ murmelte Geeta, die über die Lebensweise der meisten hijras Bescheid wusste. „Ja und, was passierte dann?“ wollte Shanti wissen. „Also, sie wurde wirklich schwanger und war überglücklich. Aber dann sollte das Kind geboren werden, und das war nicht möglich, denn in ihrem Körper gabs keine entsprechende Öffnung, und das hatte Shiva wohl auch übersehen. Jedenfalls starben die hijra und ihr Baby….“. „Wie schrecklich! “ rief Shanti, „aber wenn Shiva ein so mächtiger Gott ist, hätte er das Problem doch vorhersehen können!“ Geeta hörte Heemas Antwort nicht mehr. Sie konnte endlich ihren Wassereimer füllen und den Heimweg antreten.

 

 

Spät am Abend, vor dem Einschlafen, musste Geeta nochmals an Heemas Geschichte denken. Es war eine dumme Geschichte, und natürlich konnte sie nicht wahr sein, aber der Gedanke, einer Gottheit regelmäßig Opfer und Gebete darzubringen, um einen Herzenswunsch erfüllt zu bekommen, mochte doch etwas für sich haben. Und Geeta hatte einen immens großen Wunsch: im nächsten Leben als Mann auf die Welt zu kommen. Nicht, weil sie selbst Männer für überlegen, für besser oder für klüger hielt, sondern weil sie diese ewige Plackerei und Schinderei nicht nochmals erleben wollte. Weil sie sah, dass Frauen viel weniger Rechte hatten als Männer, viel weniger Möglichkeiten, dass sie viel weniger wertgeschätzt wurden. Als sie ihre Töchter zur Welt gebracht hatte, war kein Aufhebens darum gemacht worden. Als dann der Sohn geboren war, wurden Trommeln geschlagen und Süßigkeiten an die Nachbarn verteilt. Bei ihrer nächsten Geburt wollte auch Geeta selbst mit Jubel in dieser Welt begrüßt werden, und nicht mit Ablehnung und Gejammere.

 

Geeta beschloss, nun öfter zum Tempel zu gehen und Opfer darzubringen, um ihren Wunsch erfüllt zu bekommen. Die Gottheit ihrer Familie war Mariai – eine zwiespältige Göttin, die zwar Wünsche erfüllte, aber auch heftig reagieren konnte, wenn man sie erzürnte. Eine Zeit lang brachte Geeta Opfergaben zu dem kleinen Schrein der Göttin, der etwas außerhalb des Dorfes lag. Doch immer öfter, wenn sie ihre Bitte vortrug, vermeinte sie, eine innere Stimme zu hören die ihr riet, ihren Wunsch zu überdenken. Eine Warnung Mariais? Ob sie die Göttin möglicherweise mit ihrem Wunsch verärgerte? Sie gehörte zu den starken, freien Göttinnen, wie Kali oder Durga, die sich nicht von einem Mann dominieren ließen und die vermutlich gar kein Verständnis für den Wunsch einer Frau nach einer Wiedergeburt als Mann hatten. Doch Geeta würde von ihrem Traum nicht ablassen. Sie würde Mariais Zorn in Kauf nehmen und sich mit ihrer Bitte an Shiva wenden, dem sie von nun an ihre Blumen, Räucherstäbchen und Kokosnüsse opferte.

 

*

Geeta starb in jungen Jahren an Tuberkulose.

 

Wie lange existiert eine Seele in der Zwischenwelt, bevor sie wieder den Drang oder Zwang verspürt, in einem neuen Körper zur Erde zurückzukehren? Menschenjahre haben hier keine Bedeutung, und nach menschlichem Empfinden mochte viel Zeit vergangen sein, bis sich das, was wir wohl Geetas Seele nennen würden, wieder auf die Reise machte. Shiva, erfreut über Geetas Gebete und Opfergaben, war bereit, ihr diesmal einen männlichen Körper zu geben. - Mariai hätte diesen sehnlichen Wunsch nicht erfüllt, und das hatte einen guten Grund: Frauen denken oft etwas weiter als Männer, und sie wissen oft besser als Männer, was für ihre Kinder gut ist. Das scheint bei Gottheiten ähnlich wie in der Menschenwelt zu sein.

*

Die Party war in vollem Gange. Maya war mit überragender Mehrheit zur neuen Generaldirektorin des erfolgreichen IT-Unternehmens gewählt worden und das musste gefeiert werden. An ihrem Tisch saßen die Führungskräfte der Firma, fast ausschließlich Frauen, die sich lautstark und fröhlich unterhielten. Gelegentlich kam aber auch ein ernsteres Thema zur Sprache. „Hast du dir eigentlich schon eine Strategie überlegt, wie wir in den oberen Rängen die staatlich vorgeschriebene Männerquote von 30% erreichen können?“ fragte gerade eine. Maya zuckte die Achseln, „Wenn sich qualifiziere Bewerber melden, haben sie dieselben Chancen wie Frauen...“ „Und wo gibts qualifizierte Männer? Anwesende natürlich ausgenommen!“ rief eine hübsche Blondine und warf einen Blick auf die beiden schweigsamen Männer, die am unteren Ende des Tisches saßen. „Wie die Welt wohl ausgesehen haben mag, als die Männer das Sagen hatten?“ murmelte eine andere. „Das möchte ich mir gar nicht vorstellen“, sagte die Blonde. Dann wandte sie sich an ihre Nachbarin, „Radha, sag stimmt es, dass du schwanger bist, und dass es ein Bub wird?“ Die Angesprochene nickte. „Warum hast du es denn nicht abgetrieben? Willst du wirklich ein nutzloses Kind aufziehen?“ fragte die Kollegin weiter. Radha lächelte: „Ich habe schon zwei Töchter, der Familienname wird also auf jeden Fall weitergegeben….. Und wenn ich mit ihm nicht zurechtkomme, kann ich ihn ja immer noch an der Sammelstelle für unerwünschte männliche Nachkommen abgeben…..“ . Das Kind in ihrem Leib begann heftig zu strampeln. Aus Protest?

 

 

 

 

 

Glossar:

 

Dalit: Angehörige der ehemaligen Unberührbaren-Kasten

deshi: „Landschnaps“

hijra: Angehörige einer Transgender/Eunuchen/Transvestitenkommunität

 

 

 

 

 

GEETA

 

 

 

Geeta groaned softly. The movement had been too abrupt and now she felt the pain in her left shoulder again, which had plagued her for weeks. She put the laundry aside, felt for the painful area with her right hand and tried to relieve the pain a little by applying pressure. She got up from her stooped posture, let her gaze wander over the greenish water of the river, to the opposite bank, to the tamarind and mango trees and the pretty houses in which people lived who were better off in life than her. She was a Dalit, had barely attended school and started working at the age of 11. When she was just 16, her father married her off. Her marriage was not worse than that of other women in her caste. After all, her husband Ravi at least tried to earn money as a daily labourer. However, if he couldn't find work for several days, he would get angry, start drinking, and beat her and the children.

 

With a sigh, Geeta let go of her shoulder, took another item of laundry from her bucket, and after wringing it out a little, began to hit it against a stone step with steady movements. It was an exhausting way to wash her own, her husband´s and her children´s clothes. When this work was finally done she had to think about what to do to fill her family's bellies  in the evening. These days there was hardly any money in the house, and the few rupees she had put aside, Ravi would have found and converted into deshi by now.

 

Later that evening she went to the village well to fetch water, and as usually she met Heema there, wrapped in a new, sky-blue sari and fiddling with  strands of her hair while she waited to fill her brass vessel. Heema was a hijra and, as most of the time, was in the mood to chat, with one subject coming up regularly: Heema's regret that she had not been born a woman. Geeta regularly shook her head uncomprehendingly. "Are you blind? Can't you see how we're doing? We toil day in day out to feed our children while our men get drunk! What´s there to envy us ?” And today she added violently  “I wish I was a man! ”  “You don't understand,” Heema said softly. “I would love to have a child, I would give anything for having one. But men and hijras cannot have children ... By the way, have I already told you the story of the hijra who prayed to Shiva every day in order to get pregnant?" she asked Geeta. Geeta nodded tiredly. "Of course you have". "But I don't know the story," Shanti intervened. She was also waiting in the queue to fill her pot and she had overheard the conversation. "Well", Heema turned to Shanti and was obviously satisfied to be able to tell more, "this hijra went to the Shiva temple every day, sacrificed coconuts and flowers to the god and begged for a child". "Without a man?" asked Shanti cheekily.  Heema for a moment looked  confused, then she laughed. “No, no, of course she had a husband”. "Probably more than one," muttered Geeta, who knew about the way of life of most of the hijras. "Yes, and what happened then?" Shanti wanted to know. “Well, she really got pregnant and was overjoyed. But then the child was to be born, and that was not possible, because there was no appropriate opening in her body, and also Shiva had probably overlooked that fact. Consequently, the hijra and her baby died ..”. "How terrible! "Shanti shouted," but if Shiva is such a powerful god, he should have foreseen the problem! " Geeta did not hear Heema's comment. She could finally fill her bucket of water and started walking home.

 

Late in the evening, before going to sleep, Heema's story came again to Geeta´s mind. It was a stupid story, and of course it couldn't be true, but the idea of  regularly offering sacrifices and prayers to a deity to get a heart's desire fulfilled might be worthwhile. And Geeta had an immensely great wish: to be born a man in the next life. Not because she herself thought men were superior, better or smarter, but because she didn't want to experience this terrible drudgery again and again. Because she realized that women had far fewer rights than men, far fewer opportunities, that they were far less valued. When she had given birth to her daughters, no fuss had been made about it. When the son was born, drums were beaten and sweets were distributed to the neighbours. In her next reincarnation, Geeta herself wanted to be greeted with cheers in this world, and not with rejection and sad faces.

 

Geeta decided to go to the temple more often and offer sacrifices to get her wish granted. The family deity was Mariai - an ambivalent goddess who granted wishes but could also react violently when she got angry. For a while, Geeta took offerings to the goddess' tiny shrine just outside the village. But more and more often, when she made her request, she felt an inner voice advising her to reconsider her wish. A warning from Mariai? Could she possibly upset the goddess with her wish? Mariai was one of the strong, unmarried goddesses, like Kali or Durga, who did not allow themselves to be dominated by a man and who probably had no understanding at all for a woman's desire to be born as a man. But Geeta would not give up on her dream. She would cope with Mariai's anger and turn to Shiva with her request. To him she would offer her flowers, incense sticks and coconuts from now on.

 

 

Geeta died of tuberculosis at a young age.

 

How long does a soul exist in the intermediate world before it feels the urge or compulsion to return to earth in a new body? Human years have no meaning here, and  a long time may have passed before, what we would probably call Geeta's soul, set off again. Shiva, delighted with Geeta's prayers and offerings, was ready to grant her wish and give her a male body this time. - Mariai for a good reason would not have fulfilled the woman´s desire. Women often think a little further than men, and they often know better than men what is good for their children. This seems to be similar with deities as in the world of humans.

 

 

The party was in full swing. With an overwhelming majority Maya had been elected as the new General Manager of the successful IT company and this event had to be celebrated. At Maya´s table sat the company's executives, almost exclusively women, talking loudly and happily. Occasionally, however, a serious topic came up. "Have you actually already thought of a strategy for how we can achieve the state-prescribed male quota of 30% in the upper levels?" asked a young woman. Maya shrugged her shoulders, "If qualified males apply, they have the same chances as women ..." "And where are qualified men? Except those present, of course! ”. The pretty blonde shot a glance at the two silent men who were sitting at the lower end of the table. "I wonder what the world must have been like when mostly men were in charge?" mumbled another one. "I don't even want to imagine," said the blonde. Then she turned to her neighbor, "Radha, tell me,  is it true that you are pregnant and that it will be a boy?" The other one nodded. “For heaven´s sake, if you knew why didn't you abort it? Do you really want to raise a useless child? ” The blond lady was flabbergasted, but Radha smiled: "I already have two daughters, so the family name will definitely be passed on ... .. And if I don't get along with the baby boy, I can still hand him in at the Collection point for unwanted male descendants ...".

 

The child in her womb began to kick violently. Out of protest?

 

 

 

Glossary

 

Dalit: members of the former untouchable castes

 

deshi: "country liquor"

 

hijra: Member of a transgender / eunuch / transvestite community

 

 

 

 Translated into English by the author.