Helga Neumayer (Österreich) (Dr. phil.) ist Kulturanthropologin, Autorin und mehrsprachige Radioredakteurin (www.noso.at). Am Jugendcollege Wien unterrichtet sie Jugendliche aus Afrika, Asien und Osteuropa in den Fächern Deutsch, Kreatives Schreiben und Medienkunde. Sie ist Mitglied bei PEN-Österreich und lebt in Wien und Kritzendorf a/d Donau (NÖ).

 

 Deutsch

 

                                                                                            

 

 

DER VOLLIDIOT, GOETHE UND DER KOMET

 

 

 

 

Vorlieben

 

Ich glaube an Geschichten. Ich suche Geschichten. Ja, ich kann von mir sagen, ich liebe Geschichten.

 

Aber natürlich möchte ich dann von manchen Geschichten wiederum nicht das Geringste wissen. „Net so genau-au!“, wie Kurt Ostbahn zu singen pflegte.

 

Geschichten haben auch ihr Eigenleben. Sie kommen plötzlich und nehmen dich gefangen. Wegschauen nützt dann nichts mehr. Denn sie umgeben dich 360 Grad und schließt du die Augen, kommen sie im Traum zurück.

 

 

 

Versagen

 

Beleidigt und frustriert verließ ich eine – „meine“ – Deutschklasse. Ich hatte den KursteilnehmerInnen einen penibel ausgewählten Text aus einem Lehrbuch aus dem Jahr 2015 vorgelegt. Dazu gab es Übungen. Sie machten nicht mit.  Sie machten sich lustig. Sie wollten jetzt endlich etwas über Liebe und so lernen.

 

Einer beschwerte sich lauthals. Vor der ganzen Klasse:

 

Der Unterricht sei veraltet!

 

Das traf.

 

Im TrainerInnenraum fand ich etwas Trost. Die KollegInnen kennen solche Situationen. Aber es ging mir nahe.

 

Ich hatte jetzt ein paar existentielle Fragen im Gepäck:

 

-Arbeite ich zu altmodisch?

 

-Was bringt der Unterricht noch?

 

-Ist das alles den Aufwand wert?

 

 

 

Ablenkung

 

Der Gang in die städtische Bücherei war ohnehin fällig. Die Umgebung von Büchern, von lesenden, konzentrierten Menschen, der Blick auf den Kahlenberg beruhigt mich immer. Es ist für mich wie für andere vielleicht durch TV-Kanäle zu zappen. Ich kann mich wegbeamen, zum Beispiel im Regal zwischen den Autoren von I bis K, sagen wir mit einem neuen Kaminer oder einem frühen Kästner. Dann schaue ich beim DAF/DAZ-Regal vorbei. Was gibt es Neues?

 

Es gab.

 

„Der Vollidiot“.

 

In einfacher Sprache.

 

Einer, der alles falsch macht: Er säuft. Er hält viel von Sex. Den er nicht hat. Wenig von Freundschaften pflegen. Er ist unhöflich. Hat wenig Glück im Leben. Aber deftige Sprache.

 

Eher aus Zufall nahm ich dieses Buch mit. Es half.

 

In der nächsten Unterrichtsstunde – nach einem Wochenende mit Migräne und Magendrücken – nahm ich drei verschiedene Lernangebote mit. Im so genannten „Offenen Lernen“ ist es möglich, dass sich die TeilnehmerInnen jenen Lernstoff aussuchen, der sie anspricht. Am Ende können sie auch spielen – UNO-Karten sind sehr beliebt und die kartenspielenden Runden ziehen sich sogar oft in die Pausen hinein.

 

Nicht so diesmal. Die TeilnehmerInnen konzentrierten sich mehrheitlich auf die drei Geschichten des „Vollidioten“, die ich ihnen in Kopien zur Verfügung gestellt hatte. Von alleine kamen sie, um nach einzelnen Ausdrücken zu fragen oder sich zu versichern, ob sie es richtig verstanden hätten.  Zwei eng befreundete Burschen waren mit den drei Geschichten sehr schnell fertig. Sie baten mich um das ganze Buch, verzogen sich damit ins Sofa-Eck. Am Ende der Lerneinheit fragen sie mich, wo sie das Buch kaufen könnten. Ein Buch!

 

Dieses Erlebnis machte mir neuen Mut. Ich war also nicht ganz am falschen Platz. Nicht ganz zu altmodisch. Nicht ganz im falschen Universum gelandet. Die Geschichte konnte weitergehen.

 

Ein paar Wochen vergingen. Die Grenzen der Vollidiotin – also meine - durften sich weiterhin ausdehnen im Gebiet der Sprache.

 

 

 

Der Liebe Bahn ist eine Bahn, die keine Grenzen kennt

 

Im Regal fand ich das nächste Mal Goethes „Werther“.

 

In leichter Sprache. 

 

Als Hörgeschichte.

 

Ich kann nicht behaupten, dass mir die Klassiker als Jugendliche meine Lektüren vermiest hätten. Sie gingen an mir vorbei. Bewusst gelesen hatte ich das eine oder andere  erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter.

 

Goethes West-östlichen Diwan zum Beispiel, nachdem ich Hafis inhaliert hatte. Es war ein Genuss. Den „Werther“ hatte ich allerdings jetzt zum ersten Mal in der Hand.  In der vereinfachten Version. Für die jungen Leute aus Afrika, Asien und Osteuropa, denen ich die deutsche Sprache näherbringen sollte.

 

Wir begannen mit dem Anfang der Geschichte, da erahnt man schon eine große Leidenschaft, aber man weiß auch, dass der Augenstern vergeben ist:

 

Zweimal hören.

 

Einmal nacherzählen.

 

Einmal lesen.

 

.

 

Und dann wurde es spannend. Wie könnte die Geschichte weitergehen?

 

Die Rückmeldungen waren umwerfend.

 

Geschichten über Geschichten.

 

Sie umfassten Kontinente, Generationen und Fiktion. Was eben Literatur ausmacht.

 

Der Grundtenor: Aus Liebe brauche man sicher keinen Selbstmord begehen!

 

Der stille junge Mann von der Elfenbeinküste aus der hinteren Reihe wurde sehr emotional. Er erzählte von seinem Bruder, der mit der gesamten Familie gebrochen hatte, weil ihm die Liebe zur Frau seines Herzens verwehrt wurde. Er sei daraufhin nach Deutschland ausgewandert und hebe jetzt nicht mal mehr das Telefon ab, wenn ein Familienmitglied anrufe. Eine junge Syrerin meinte, die arrangierte Verlobung mit einem Ungeliebten ließe sich sicher auflösen und alles würde sich in Wohlgefallen regeln. Ein junger Ukrainer, der radikalste von allen, lenkte kurzerhand einen Kometen aus dem unendlichen Nichts in die Ballgesellschaft der Verliebten, löschte die gesamte ranzige Gesellschaft aus und brachte die Geschichte zu einem schnellen Ende.

 

Und ich?

 

Ich genüge jetzt endlich auch dem Anspruch Marcel Reich-Ranickis, der 2002 erklärte, jeder gebildete Deutschsprachige müsse Goethes „Werther“ gelesen haben. Durchaus aber möglich, dass er meine Version – leichte Sprache, Hörgeschichte - nicht hätte durchgehen lassen.

 

 

 

 

 

 

English

 

 

 

THE IDIOT, GOETHE, AND THE COMET

 

 

 

I believe in stories. I am looking for stories.  And, yes. I can describe myself as a story lover. But, naturally, there are some stories I don’t want to know anything, at all, about. ”Net so genau-au!“, „Not too many details,” as Austrian artist Ostbahn-Kurti used to sing.

 

 

Stories have a life of their own. Suddenly, they come and bewitch you. It is useless to ignore them. You are surrounded by them; by closing your eyes, they come back in dreams.

 

 

 

Failing

 

 

Offended and frustrated, I left a-- “my”-- German class. I had offered a proper elected lesson out of a textbook of the year 2015, with exercises. The class did not participate.  They made fun of my lesson. They now wanted to learn something about love, etc. One of them complained noisily in front of the class:

 

 

“Teachings would be out-of-date!”

 

That hit!

 

 

There was some consolation in the trainers’ room.  The colleagues know such situations. Anyhow, it affected me. 

 

I had some questions in my backpack:

 

 

“Do I do antiquated work?”

 

 

“What can I still expect from teaching classes?” 

 

 

 

“Is it worth the expenditure?”

 

 

 

Diversion

 

 

 

Anyway, I had to go to the public library.

 

I had to be surrounded by books, by concentrating and reading people.

 

I needed to gaze on the soft hills of the “Wiener Wald”-- the Vienna Forest.

 

They calm me down.  For me, that has an effect like it does for others zapping through TV channels.

 

 

 

I can beam myself away, for example, among the bookshelves between I and K, let’s say, between a new Kaminer and an early Kaestner.  Then, I have a glance at the DAF/DAZ shelf, at the textbooks for German as a foreign or second language.

 

 

 

Something new?

 

 

 

There was:

 

“The Complete Idiot.” 

 

Simple speech. 

 

 

 

One guy does everything wrong. A drunkard.  Always talking about sex, something that he does not have.  No friendships to care about. Impolite. No luck in life.

 

 

 

Hefty language.  

 

 

 

Rather, by case, I took the book. It helped.  For the next lesson, after a weekend of stomach ache and migraine, I had three different proposals for the class. In the so called “open-learning class,” participants are motivated to choose their own learning matter; they will choose what they like to learn at the moment. At the end, they are even allowed to play--playing cards is in vogue--and, even at break times, you can see deep, concentrating card-playing groups.

 

 

 

Not this time. The participants concentrated mainly on the three stories of “The Complete Idiot,” which I had offered them in copy form.  By themselves, they came to ask for expressions in detail, to be sure to understand everything properly.

 

 

 

Two close friends finished the three stories quickly and asked for the whole book, to retire with it in the leisure corner on the sofa. At the end of the lesson, they asked where to buy the book.

 

 

 

A book!

 

 

 

With this experience, I gathered new courage. Finally, I was not at a very wrong spot.  Not old-fashioned. Not entirely in the wrong universe. 

 

 

 

The story could go on.

 

 

 

A few weeks passed.  The borders of “The Complete Idiot” -- thus mine -- could expand, furthermore, in the area of language.

 

 

 

The rail of love is a rail, which does not know limits.

 

 

Next time, I found Goethe’s “Werther” on the shelf.

 

 An audio book.

 

I cannot claim that in my younger years classical literature spoiled my love for literature, in general.  Those years just passed by. Consciously, I read one or another text as considered “advanced” only. For example, Goethe’s “West-east Divan,” after having inhaled Hafes.

 

It was pure joy.

 

 

 

“Werther,” however, fell into my hands for the first time now.  It was a simple version for the young people from Africa, Asia,and Eastern Europe whom I should bring closer to the German language. So, we started with the beginning of the story when you can already adumbrate a big passion, but you already feel that the darling sweetheart is in other hands.

 

 

Listen two times.

 

Re-narrate once.

 

Read once. 

 

 

And then it was getting exciting.

 

How would the story proceed?

 

 

The feedback was gorgeous.

 

Stories over stories.

 

They embraced continents, generations, and fiction.

 

Exactly what turns out to be literature.

 

Prevailing tenor: Love is surely no reason for suicide!

 

The quiet young man from the Ivory Coast in the back row got very emotional. He recounted about his brother, who broke with all kin, because his love for the woman of his heart was refused by his family.  He emigrated to Germany and doesn’t even answer the phone when a family member calls. 

 

A young Syrian woman believes that an arranged engagement with an unloved person can surely be cancelled, and everything will work out fine. And the young Ukrainian--the most radical of all--without further ado--navigates a comet out of the infinite nothing into the ballroom of the society of lovers, and extinguishes the whole raunchy bunch and brings the story to an early end.

 

And myself?

 

 

Well, me, I am now complying with the standard requirements of Marcel Reich-Ranicky,  a cononical literary critic, who in 2002, declared that every literate German speaker must have read Goethe’s “Werther”.  But quite possibly, my version, in simple speech, an audio book, would not have been acceptable to him ...

 

 

 

 

 

(Translation from the German original to English by the author and Carol Yalcinkaya-Ferris)