Helmuth A. Niederle (Österreich) ist Schriftsteller, Übersetzer, Präsident des Österreichischen PEN-Clubs. Von 1994 bis Ende 2011 war er stellvertretender Leiter der ÖGL und zeichnete für die Programmgestaltung verantwortlich. Niederle trat 1984 dem Literaturkreis Podium, dem Österreichischen Schriftstellerverband sowie dem Österreichischen PEN-Club bei. Seit 2000 fungiert er als Beauftragter des Writers in Prison Committee des PEN und setzt sich als Funktionär, Herausgeber und Vortragender für politisch unterdrückte Schriftsteller ein. 2011 brachte er beispielsweise die Anthologie “Von der Freiheit des Schreibens“ heraus, die dem deutschsprachigen Lesepublikum Texte verfolgter Autorinnen und Autoren vorstellt und auf die weltweite Achtung der Menschenrechte pocht. Zum Teil steht auch Niederles Übersetzungsarbeit in Zusammenhang mit dem Engagement für verfolgte Schriftsteller, jedenfalls aber zeugt sie von seinem ethnologischen Interesse im Sinne des Postkolonialismus. Als Herausgeber förderte Niederle auch verstärkt die österreichische Gegenwartsliteratur.

 

 Deutsch

 

Lob des Unvollkommenen

 

 

Der Mensch ist ein Reisender durch die Zeit, in der er den Weg von der Geburt zum Tod zurücklegt. Bekanntlich durchwandern alle diesen Pfad des Lebens. So gesehen ist es nicht übertrieben zu behaupten, jeder kommt an. Und die Ankunft, die im Sterben beginnt, ist eine besondere Form der Vollendung. Allerdings eine Vollendung, die keine Änderung und keine Entwicklung mehr gestattet. Auf dem Weg zwischen Geburt und Tod gibt es eine Vielzahl von Zielen, wichtige und weniger bedeutsame, angenehme und abstoßende. Auch geographische Ziele gibt es, manche, um sie temporär aufzusuchen und manche, um dort so lange wie möglich zu bleiben.

 

Aus dem bisher Gesagten lässt sich unschwer erkennen, dass dem nicht Abgeschlossenen, dem Unvollendeten der Reiz des Weiterzuführenden innewohnen. Das meint selbstverständlich nicht, dass jene Freude, die aus der Auseinandersetzung mit einem Meisterwerk der Kunst entspringt, abzulehnen ist. Nein, ganz im Gegenteil. Diese besondere Form der Vollendung ist als einladende Wegmarkierung zu einer weitergehenden Humanisierung der Welt zu verstehen. Sie ist eine Vorahnung von dem, was man als wünschenswerten Zustand des eigenen Lebens sieht und wie man sich auch den Zustand der Welt wünscht. Um jedoch diese Vollendung im individuellen Raum als auch im globalen Zusammenhang zu erreichen – stets eingedenk, dass dieser Zustand nie erreichbar sein wird – bedarf es des Unfertigen, noch zu Ende zu Bringenden.

 

Anders gesagt: Die Herausforderung, die durch das Unfertige entsteht, ist, dass jeder Einzelne aufgefordert ist, das noch nicht Fertige zu dem Ende zu bringen, das für einen selbst stimmig und daher auch gültig ist. Dies bedeutet aber auch, dass die Menschen stets in einer Welt leben müssen, die noch nicht zu Ende gedacht ist, sondern den Beitrag jedes Einzelnen fordert, damit sie der Vollendung entgegen gehen kann. Es ist dies eine Welt der Vielzahl an Stimmen, an Alternativen, die stets auf unterschiedliche Ideen angewiesen sind, um sich in Schönheit in die Richtung zu entwickeln, was in ihr angelegt, aber noch im Verborgen liegt und was durch die kreativen Möglichkeiten, die den Menschen zur Verfügung stehen, freigelegt werden. Wenn die Archäologie mit größter Vorsicht Schicht um Schicht freilegt, was während der Jahrhunderte verschwand, ist die verehrende Haltung dem Unfertigen gegenüber, als eine Archäologie zu sehen, welche in der Gegenwart die Möglichkeiten der Zukunft mit sanfter Hand herauspräpariert.

 

Solch eine Haltung ist eine tief demokratische und lässt den Widerspruch zu. Ja, sie fordert ihn heraus, bettelt geradezu darnach, dass Widersprüche geäußert werden, um so durch Ideenvielfalt die größtmögliche Freiheit für die Menschen zu erreichen. Mit anderen Worten gesagt: Das Bekenntnis zum Unfertigen gestattet Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Auffassungen und Generationen sich gegenseitig zu verbinden, damit etwas Neues entsteht. Es ist eine Welt des Diskurses, in der Gewissenszwang als die schmählichste Sünde und Unduldsamkeit als die gemeinste Art der Unmenschlichkeit gesehen wird, weil in ihr das wahrhaft Menschliche wie auch das Göttliche (also das Grenzüberschreitende) unmöglich gemacht werden. Denn wenn Inhumanität zum gültigen Gedankengut wird, sind Mensch, Kultur und Natur in ihrer Existenz gefährdet. Unbildung und Verblendung greifen dann Raum

 

In einer Welt des Diskurses haben jene Grenzen, die von den politisch Mächtigen gewollt, gewünscht und auch durch Gewalt gezogen werden, keinen Platz. Denn politische Grenzen sind Herrschaftsgebilde, die im Namen einer Religion, einer Ideologie, einer Tradition oder auch im Namen eines Staatsmannes, der sich in Selbstherrlichkeit ergeht, gezogen. Dabei ahnen weder die Verteidiger noch die Nutznieser dieser Herrschaftsgebilde nicht, dass sie alle eine Eigenschaft mit Porzellan gemeinsam haben: die Zerbrechlichkeit. Manchmal genügt schon ein Weniges, um das anscheinend fest Gefügte zu zerstören. Darnach landet es auf dem Müllhaufen der Geschichte.

 

Ganz anders in den Künsten: Die Infragestellung des fest Gefügten führt zu neuen Erkenntnissen, zu neuen literarischen, musikalischen oder bildnerischen Ergebnissen, die ihrerseits zur Grundlage von weiteren Übungen der Kunst werden können.

 

Abschließend noch eine Kleinigkeit: Missverständnisse in der Politik haben nicht selten in blutige Auseinandersetzungen geführt. In der Kunst ist das Missverständnis im höchsten Maße fruchtbar. Als die Europäer die afrikanische Kunst sahen, verstanden sie zwar nicht, was die einzelnen Bildwerke bedeuteten. Doch von Pablo Picasso bis Gustav Klimt, um zwei höchst unterschiedliche Beispiele zu nennen, haben sich Künstler inspirieren lassen und Werke geschaffen, die ohne das „Fremde“ mit Sicherheit nicht entstanden wären. In diesem Sinne sollten wir in unserem Schreiben alle Grenzen übersteigen: behutsam und voll der Achtung, doch nicht furchtsam, wir könnten einander missverstehen. Sind wir offen für das Neue, auch wenn es unvollkommen ist. Unvollkommenheit ist eine Tugend

 

English

 

 

In Praise of Imperfection

 

Man is a traveller through time and on that path he travels from birth to death. As we know, everyone is walking this path of life. Seen in this way, it is not an exaggeration to say that everyone arrives at his destination. And the arrival that begins in dying is a special form of perfection. However, the perfection that allows no change and no development. On the path between birth and death, there is a multitude of goals, important and less meaningful, pleasant and repulsive. There are also geographical destinations; some to visit temporarily and some to stay there as long as possible.

 

From what has been said so far, it is easy to see that the incomplete, the unfinished, is intrinsically appealing. Of course, this does not mean that the joy that derives from dealing with a masterpiece of art must be rejected. No, just the opposite. This particular form of perfection is to be understood as an inviting way to further humanize the world. It is a foreshadowing of what one sees as a desirable state of one's own life and how one wishes the state of the world. However, to achieve this perfection in individual space as well as in the global context - always remembering that this state will never be attainable - requires the unfinished, yet to bring to an end.

 

In other words, the challenge posed by the unfinished is that each individual is called upon to bring the unfinished to an end that is self-consistent and therefore valid. But this also means that people must always live in a world that is not yet finished, but it demands the contribution of each individual so that he can achieve completion. It is a world of voices, of alternatives which are always dependent on different ideas to develop beautifully in the direction of what is laid out in it but still hidden, and what is to be exposed through the creative possibilities that are available to a human being. When archaeology with the utmost care exposes layer after layer disappeared through centuries it is the adoring attitude of the unfinished is to be seen as an archaeology in the present day gently prunes the possibilities of the future.

 

Such an attitude is deeply democratic and allows the contradiction. Yes, that challenges him, begging for contradictions to be expressed in order to achieve the greatest possible freedom for people through the diversity of ideas. In other words, the commitment to the unfinished allows people of different cultures, religions, beliefs, and generations to connect with each other and create something new. It is a world of discourse in which conscience is seen as the most ignominious sin and intolerance as the meanest kind of inhumanity because in these things the truly human as well as the divine (i.e. the cross-border) are made impossible. For if inhumanity becomes a valid body of thought, the existence of human beings, culture and nature are endangered. Then ignorance and delusion catch hold of the space.

 

In a world of discourse, the boundaries desired, wished and drawn by the politically powerful have no place. For political boundaries are rulings drawn in the name of a religion, an ideology, a tradition or even in the name of a statesman who indulges in self-glorification. Yet neither the defenders nor the beneficiaries of these rulings guess that they all share one property with porcelain: fragility. Sometimes just a little is enough to destroy what seems to be a solid thing. With that, it lands on the garbage heap of history.

 

Quite different is in the arts: the questioning of the fixed structure leads to new insights, to new literary, musical or pictorial results which in turn can become the basis for further exercises in art.

 

Finally, one small thing: misunderstandings in politics have often led to bloody conflicts. In art, misunderstanding is extremely fruitful. When Europeans saw African art they did not understand what the individual sculptures meant. But from Pablo Picasso to Gustav Klimt, to name two very different examples, artists have been inspired and created works that would certainly not have been created without the "foreign". In that sense, in our writings we should exceed all limits: gentle and full of respect, but not with fear, we could misunderstand each other. Are we open to the new, even if it is imperfect? Imperfection is a virtue.

 

 Translated into English by Sarita Jenamani