Aurelia Merz (Österreich) schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, sie lebt und arbeitet in Wien.

 Deutsch

 

HEIDI

 

 

Ausgangssperren, leer geräumte Geschäfte, menschenlose Straßen, Polizeikontrollen – solche Dinge gab es in den letzten Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt, nicht aber bei uns. Dass es vielleicht auch hier zu solchen Szenarien kommen würde, wurde mir zum ersten Mal vor etwa zwei Wochen (Mitte März 2020) richtig bewusst. Eine Freundin war aus Deutschland gekommen, wollte wegen einer Lehrverpflichtung an der Universität bis Ende März in Wien bleiben, und rief mich Sonntag nachmittags aufgeregt an. Sie müsse ganz schnell ihren Koffer packen und zurückfahren. Im Radio hatte sie gehört, dass die Grenze zu Deutschland dicht gemacht werde. Sie müsse den Abendzug erreichen, denn dann gebe es auch keine Zugverbindung mehr.

 

Eine Situation, wie sie in Ländern mit Kriegs- oder Bürgerkriegsereignissen nicht ungewöhnlich ist, wogegen hier kein sichtbarer Feind, sondern ein winziges Virus für einen Ausnahmezustand sorgt. Im Jammern über die gegenwärtige – und sicher nicht mit einer Kriegssituation vergleichbaren - Pandemielage vergessen wir völlig, dass vor etlichen Jahrzehnten auch in Österreich Menschen plötzlich ihre Koffer packen und fliehen mussten, weil Grenzen geschlossen wurden, weil feindliche Soldaten im Anrücken waren. Das wurde mir plötzlich bewusst, während ich mit meiner verstörten Freundin telefonierte und meine Augen im Zimmer umher wanderten und zufällig an einer hässlichen, alten Puppe hängen blieben, die auf einem Regal in meinem Zimmer sitzt. Sie ist ein Relikt aus Kriegstagen und erinnert an Zeiten, in denen ich ein ganz kleines Kind war und wir in aller Eile unser Domizil im Waldviertel verlassen mussten. Die Eisenbahn fuhr nicht mehr, doch Militärfahrzeuge nahmen Menschen mit, die vor der einmarschierenden russischen Armee flüchteten. Die Zelluloidpuppe Hedi war damals wohl mein Lieblingsspielzeug, und angeblich weinte und schrie ich, weil wir schleunigst weg mussten und die Puppe, ohne die ich nicht in den LKW wollte, nicht zu finden war. Meine Mutter, ihre Tante und deren Tochter waren für die Abfahrt fertig, doch die zweite Cousine meiner Mutter war verschwunden. Alle riefen laut und suchten nach ihr, doch Erika war nicht aufzufinden und schließlich konnten die Soldaten nicht länger warten, und wir mussten ohne sie abfahren. Die Frauen waren verzweifelt und mussten sich damit abfinden, die Verschwundene vielleicht für lange Zeit nicht wiederzusehen.

 

Nach einigen Stunden machte die LKW Kolonne am Rand eines Waldes Halt. Alle stiegen aus und viele nützten die Gelegenheit, um im Wald kurz hinter Büschen zu verschwinden und sich zu erleichtern. So auch meine Mutter. Sie ging ein paar Schritte in den Wald hinein – und blieb wie angewurzelt stehen. Auf einem Baumstrunk saß, weithin sichtbar, meine Hedi-Puppe in einem leuchtendroten Kleidchen. Meine Mutter stürzte auf sie zu, hob sie hoch und fand einen kleinen Zettel, der mit einer Haarklammer am Kleid festgeklemmt war. Darauf stand nur ein Wort: PASSAU. Nun war alles klar – Erika war schon mit einem früheren Konvoi gefahren, hatte meine Puppe mitgenommen und sie in der aberwitzigen Hoffnung, dass sie gefunden würde, mit ihrer Botschaft im Wald abgesetzt. Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit fast Null war, wollten der Zufall oder eine höhere Macht, dass sich diese Hoffnung erfüllte und die anderen Familienmitglieder nun wussten, dass sie Erika im Flüchtlingslager in Passau wiederfinden würden.

 

 

Ich kenne diese Geschichte nur aus Erzählungen meiner Mutter und meiner Tanten. Doch auch wenn ich damals zu klein war, um mich an die Ereignisse dieser letzten Kriegswochen erinnern zu können, stecken doch Empfindungen in mir, die wohl auf diese Zeit zurück gehen. Ich bekomme immer ein sehr unangenehmes Gefühl, wenn ich das Geräusch eines trieffliegenden Propellerflugzeugs höre. Meine Mutter sagte, dass sie einmal mit mir spazieren war, sich mit lautem Geräusch Tiefflieger näherten und sie mich an sich riss und mit mir in den nahen Wald lief, um uns zu verstecken. Die spürbare Angst von damals ist wohl mein Begleiter geblieben. Ein anderes, allerdings positives, Gefühl ist meine Liebe zu Gurken, die ich im Flüchtlingslager entdeckt haben dürfte. Eine alte Mitbewohnerin des Lagers ging manchmal auf die Felder und brachte Dinge mit, die sie finden konnte. Meist waren das grüne Gurken, und ich hatte bald verstanden, dass „Tante Flora“ mir gerne von ihrer Beute etwas abgab.

 

 

Auch wenn wir uns jetzt in einer Krisensituation befinden – um wie viel besser ist doch unsere Lage als sie es damals, in diesen letzten Kriegstagen, war, und als sie auch heute für viele Menschen ist, die ihre Heimat verlassen mussten, weil dort das Leben unerträglich geworden war; die Familienmitglieder verloren haben und nichts über deren Verbleib wissen, und die keine Hedi-Puppe haben, die ihnen wichtige Hinweise zum Auffinden der Vermissten geben könnte.