Aurelia Merz (Österreich) schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, sie lebt und arbeitet in Wien.

 Deutsch

 

ER WAR NUR ZU LANG IN DER SONNE

 

 

 

 

 

Der Park liegt genau gegenüber unserer Wohnung. Ich bin mit meinem Sohn oft dort. Er heißt Niki und ist fünf Jahre alt. Oft nehme ich auch Helene, die kleine Tochter meiner Nachbarin,  mit zum Spielplatz. Sie ist ein paar Monate jünger als Niki, und die beiden sind wie Geschwister. Sie spielen zusammen, streiten, hauen sich, und sind unglücklich, wenn ein paar Tage vergehen, ohne dass sie sich sehen können.

 

Der Spielplatz ist nicht sehr groß, aber es gibt eine Schaukel, eine Rutsche, eine Sandkiste, ein Klettergerüst und noch in paar andere Dinge, die den Kindern offenbar nicht sehr interessant vorkommen, weil sie kaum benützt werden. Um den Spielplatz herum stehen Kastanienbäume und darunter Bänke, auf denen wir jungen Mütter sitzen. Wir kennen einander inzwischen, sind fast eine Gruppe von Freundinnen geworden und sind besorgt, wenn sich eine für längere Zeit nicht sehen lässt. So wie wir Mütter, bilden auch unsere Kinder eine ziemlich kompakte Gruppe, wobei natürlich jedes Kind seine speziellen Freunde hat oder manchmal auch den einen oder die andere „ganz ekelhaft“ findet. Helene hat sich nebenbei auch noch mit einem Mädchen aus der Gruppe der türkischen Kinder angefreundet, deren Mütter auf den Bänken an der anderen Seite des Spielplatzes sitzen. Überhaupt ist Helene ein sehr umgängliches Kind, das schnell Kontakte knüpft, während Niki eher zurückhaltend und schweigsam ist und manchmal ein wenig einsam inmitten der vergnügten Schar wirkt.

 

Eines Nachmittags, als wir Frauen wieder einmal mit dem unerschöpflichen Thema „Ehemänner“ befasst waren, sagte Vera plötzlich in leicht verwundertem Ton „Was ist denn das?“ und deutete mit dem Kopf  zum Rand des Spielplatzes. „Das“ war ein kleiner, afrikanischer Junge, der wie verloren dort stand und offensichtlich nicht wusste, was er tun sollte. „Ist der süß“, rief Dora, „Mit diesen Kulleraugen – schauen sie nicht aus wie Puppen?“ „Na ja, solange sie so klein sind...“, murmelte Trixi und fügte dann ganz sachlich hinzu, „Der kann doch nicht alleine gekommen sein?“ Wir sahen uns um und entdeckten schnell eine Frau, die an einem Baumstamm lehnte. Obwohl es nicht sehr kühl war, hatte sie ein Wolltuch fest um Kopf und Schultern geschlungen. Ihr Alter war schwer abzuschätzen. „Nigeria?“, vermutete Vera. “Vielleicht Somalia”, schlug Trixi vor. „In Italien gab’s so viele Strandverkäufer aus Somalia. Die wollen alle weg von dort – wegen dem Bürgerkrieg, haben sie gesagt“. Während die anderen noch weiter debattierten sah ich, dass Niki langsam auf den kleinen Jungen zuging, zwar nichts zu ihm sagte, aber sich neben ihn stellte. „Schau, schau, die soziale Ader deines Sohnes zeigt sich wieder einmal“, sagte Vera ein wenig spöttisch. Ich ärgerte mich. „Na, wenigstens hat er eine soziale Ader“, gab ich etwas schnippisch zurück und verkniff mir darauf hinzuweisen, dass von allen Kindern ihre beiden Buben am öftesten eine Rauferei anfingen. Ich beobachtete die beiden Buben und sah, dass der kleine Afrikaner Niki schüchtern anlächelte. Der Kontakt war hergestellt. Niki mache kehrt, ging ein paar Schritte Richtung Rutsche und drehte sich wieder um. Als er sah, dass der Kleine ihm folge, ging er weiter, stieg langsam die kleine Leiter hinauf und rutschte. Der andere machte es ihm nach, und nun lachte er übers ganze Gesicht. Ich warf einen verstohlenen Blick auf die dunkelhäutige Frau und sah, dass auch sie ein wenig lächelte. Eigentlich hatte ich an diesem Tag früher nach Hause gehen wollen, aber ich ließ die beiden noch eine ganze Weile spielen  und freute mich über das Verhalten meines Sohnes. Am Heimweg fragte ich ihn dann, ob er den Namen seines neuen Freundes erfahren hatte. „Taki, oder Tari, oder so ähnlich. Ich hab ihn Taki genannt und das ist ok für ihn. Er kann fast nicht reden“. „Du meinst, er kann kein Deutsch?“ vermutete ich. „Weiß nicht, er redet fast gar nix“. „Kommt er morgen wieder?“ fragte ich. Niki zuckte die Achseln.

 

Taki kam wieder in Begleitung derselben Frau, die sich abseits hinsetzte und die meiste Zeit die Augen geschlossen hielt, und er strahlte über sein ganzes, rundes Gesicht, als er Niki erblickte. Der nahm ihn bei der Hand und zog ihn zur Schaukel für die kleineren Kinder. Langsam akzeptierten auch die anderen Kinder Taki, oft aber spielte mein Sohn alleine mit ihm und brachte dafür eigens seine Autos und anderes Spielzeug mit.

 

Ein paar Tage nach Takis erstem Auftauchen kamen ein paar größere Buben zum Spielplatz. Sie hatten Schultaschen dabei, die sie neben einer Bank zu Boden warfen und zur Schaukel liefen. Fast rannten sie dabei Taki um, der gerade Nikis kleines Kinderfahrrad ausprobieren wollte. Niki selbst war weiter weg, weil ihn kurz zuvor Helene gerufen hatte. „Was stehst du da herum,“ schimpfte einer der Buben Taki, der ihn verständnislos mit großen Augen ansah. „Schau nicht so blöd“, fuhr der Schuljunge daraufhin fort. Nun kamen auch die anderen beiden zurück. „Was machst du überhaupt da?“. „Wo sind die anderen neun kleinen Negerlein, bist du der letzte?“ „Färbst du ab?“  Sie lachten, und einer fuhr Taki mit dem Finger übers Gesicht. Ich stand auf, wollte mich einmischen, da sah ich, dass plötzlich Niki aufgetaucht war. „Lasst meinen Freund in Ruhe“, sagte er zu den größeren Buben. „Hast du keine anderen Freunde? Brauchst du einen Negerfreund? Schau wie schwarz der ist“, riefen sie durcheinander. „Ja klar, der war zu lange in der Sonne“, erklärte ihnen Niki ernsthaft, denn er wusste vom Meeraufenthalt in Kroatien sehr genau, dass die Haut mit Sonneneinstrahlung dunkler wurde. Und Taki war eben noch länger an der Sonne gewesen. „Ha, ha, zuviel Sonne!” Die drei lachten, aber sie ließen nun Taki in Ruhe, nahmen wieder ihre Taschen und verschwanden. Ich war sehr stolz auf meinen Sohn. Auch meine Freundinnen hatten die Szene beobachtet, und nach einer Weile sagte Vera: „Zu lange in der Sonne....da fällt mir eine Geschichte ein, die mir einmal ein indischer Freund erzählt hat. Als Gott die Menschen erschaffen wollte, nahm er Ton oder Lehm, und machte daraus eine kleine Figur....“ „....und hauchte ihr eine Seele ein“, unterbrach Dora. „Nein, nein. In Indien geht’s nicht so einfach. Er musste die Figur erst brennen. Also schob er sie in den Ofen. Aber er war ungeduldig und nahm sie zu schnell wieder heraus. Sie war noch ganz weiß, und daraus entstanden die Europäer. Die nächste Figur ließ er länger im Ofen, und als er sie rausnahm, war sie schon ganz schwarz geworden, und aus ihr wurden dann die Afrikaner. Bei der dritten Figur passte er sehr genau auf, vielleicht schaute er sogar auf die Uhr, also jedenfalls nahm er sie im richtigen Moment heraus. Sie war nicht mehr ganz weiß, und sie war noch nicht schwarz, sie war ein bisschen gebräunt und gerade richtig und das...“ „Das waren wohl die Inder“, unterbrachen wir sie unisono. „Ja, ja, das waren natürlich die Inder“, bestätigte Vera lachend.

 

 

 

Am Abend rief ich mir nochmals die Szene im Park und die Geschichte in Erinnerung. Wie schön, dachte ich, wenn man sich diese kindliche Überzeugung erhalten könnte, die Menschheit als eine große Einheit zu sehen, noch nichts von Völkern, Ethnien, Rassen gehört zu haben und genau zu wissen, dass Menschen eben verschieden aussehen, weil sie verschieden lang an der Sonne waren – oder verschieden lang in Gottes Backofen.