Jelena Semjonowa-Herzog (Belarus/Österreich), in Minsk geboren, ist Lyrikerin, Schriftstellerin, Übersetzerin für Russisch und Belarussisch, Literaturwissenschaftlerin und Lehrerin.  Sie schreibt auf Russisch, Belarussisch und Deutsch. 2006 erschien in Minsk ihr Lyrikband „Die Tropfen des Lichtes“. Sie übersetzt Lyrik und Prosa. Zuletzt erschienen in ihrer russischen Übersetzung zwei Werke von Lene Mayer-Skumanz: der Jugendroman „Hanniel. Ein Engel auf Erden“ (Minsk 2020) und das Buch „Das Weihnachtsgeheimnis“ (Minsk 2021; als Online-Projekt).  Sie ist Vorstandsmitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer, der Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur und von UNIVERSITAS Austria, Mitglied der Literar-Mechana, des Vereins „I GEH LESEN“, des Verbands belarussischer Schriftsteller, Mitglied im PEN Austria etc. Sie lebt und arbeitet  in Wien.

 

Deutsch

 

 

MEIN STILLER HAFEN

 

Die Erinnerungen überrollen mich plötzlich, sie überfluten mich förmlich. Und schon bin ich nicht mehr in Wien, sondern in Minsk, in der Wohnung meiner Großeltern. Es herrscht heißes Juliwetter. Ich bin acht oder neun Jahre alt. Ich sitze auf dem Balkon mit einem Buch, lese und genieße die Ruhe des Sommertages. Unser Hof ist grün, mit vielen Bäumen und Sträuchern, mit Blumenbeeten unter den Fenstern. Gegenüber von unserem Haus befinden sich Kasernen, wo junge Burschen ihren Wehrdienst leisten. Manchmal höre ich wie sie in einem gut aufeinander abgestimmten Chor Lieder singen, oft passiert das am Nachmittag oder gegen Abend. Ich mag, wie sie singen, und mir fällt die Zeile aus einem Lied ein: „Wenn die Soldaten singen, schlafen die Kinder ruhig.“

Ich sitze auf dem Balkon, sehe zu, wie sich die Flocken des Pappelschnees langsam in der Luft drehen und auf die Erde sinken. In dem Zimmer, wo sich der Balkon befindet, ist es still. Die Großmutter ist in der Küche, sie kocht das Essen. Der Großvater ist Lebensmittel einkaufen gegangen. Er geht jeden Tag spazieren und kauft während seiner langen Spaziergänge Lebensmittel ein. Im Sommer bringt er oft Eis – das Sahneeis „Plombir“ in Waffelbechern, manchmal mit Rosinen und Nüssen. Für mich ist das ein richtiges Fest.

Die Wohnung der Großeltern befindet sich im selben Treppenhaus wie die Wohnung, wo ich mit meinen Eltern wohne. Deswegen besuche ich die Großeltern oft. Nicht nur an Werktagen während des Schuljahres, sondern auch an Wochenenden, in den Ferien und abends. Bei ihnen ist es immer gemütlich, ruhig und interessant. (Zu Hause fühle ich mich natürlich auch wohl, aber bei den Großeltern herrscht eine besondere Atmosphäre der Ruhe und der Geborgenheit.)

 

Und da ist noch eine Erinnerung. Der Großvater sitzt am Tisch im Wohnzimmer, dem so genannten großen Zimmer, das den Großeltern zugleich auch als Schlafzimmer dient, denn in dem anderen Zimmer wohnt mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Der Großvater sitzt am Tisch und macht einen Eintrag ins Tagebuch, das er regelmäßig führt. Darin notiert er nicht nur das, was an diesem Tag in seinem Leben und in der Welt passiert ist, sondern auch wie das Wetter heute war, was er Interessantes geträumt hat. Auf der Anrichte steht der Käfig des grüngelben Wellensittichs Petruscha, des Lieblings der Großeltern. Der Käfig ist leer, denn Petruscha sitzt auf dem Tisch und zupft an den Rändern von Opas Tagebuch. Der Großvater spricht ab und zu mit gespielter Strenge zu ihm, aber der Vogel kehrt immer wieder zum Heft zurück. Auf dem Tisch neben dem Großvater steht ein Radiogerät – ein Transistor, wie er es nennt. Der Großvater hört gern Radio: Nachrichten und verschiedene andere Sendungen, Hörspiele. Auch ich mag die Hörspiele aus Großvaters Radio sehr gern, oft sind es Kriminalgeschichten. Ich liege auf dem Bett mit geschlossenen Augen und tauche ganz und gar in die Welt der Hörspielprotagonisten ein.

 

Und da sitze ich in der Küche. Die Großmutter fuhrwerkt am Herd herum. Auf dem Herd kocht die Suppe, brutzeln die Frikadellen. Die Großmutter erzählt mir etwas, lächelt mit ihrem schönen Lächeln mit Grübchen in den Wangen.

Vor meinem inneren Auge taucht noch eine Erinnerung auf. Es ist Abend. Die Tischlampe gießt mildes gelbes Licht auf den Küchentisch. Am Tisch sitzen die Großmutter und ich. Die Großmutter liest mir aus einem Kinderbuch vor. Vielleicht ist es „Die großen Abenteuer des kleinen Ferdinand“ oder „Nimmerklugs Reise zum Mond“ oder „Die Abenteuer des Hamsters Choma und des Ziesels“. Auf dem Tisch stehen eine Teekanne, zwei Tassen schwarzer Tee und ein Tellerchen mit einem Käsebrot, das die Großmutter in kleine Stücke geschnitten hat, denn so zu essen ist interessanter für mich. Gebannt höre ich ihr zu und von Zeit und Zeit lege ich in den Mund ein kleines Stück Käsebrot und trinke einen Schluck Tee dazu. Draußen ist es dunkel, in der Küche ist es warm und gemütlich. Mich überkommt das Gefühl eines stillen Glückes und der Seligkeit.

 

Ich habe noch viele andere Kindheitserinnerungen. Sie alle sind meine innere Welt, mein Reichtum, meine Quelle der Freude und der Kraft, ein stiller Hafen, wohin ich immer zurückkehren und wo ich vor den Stürmen des Lebens Zuflucht finden kann.        

 

 

 

 

Russisch

 

Моя тихая гавань

 

Воспоминания накатывают внезапно, прямо-таки накрывают меня с головой. И вот я уже не в Вене, а в Минске, в квартире дедушки и бабушки. Стоит жаркая июльская погода. Мне лет восемь-девять. Я сижу с книгой на балконе, читаю и наслаждаюсь покоем летнего дня. Двор у нас зелёный, с множеством деревьев и кустов, с цветочными клумбами под окнами. Напротив нашего дома находится воинская часть, где молодые парни проходят службу. Иногда я слышу, как они слаженным хором поют песни, часто это бывает в послеобеденное время или под вечер. Мне нравится, как они поют, и на ум приходит строка из песни: «Когда поют солдаты, спокойно дети спят».

Я сижу на балконе, наблюдаю за тем, как медленно кружатся в воздухе и плавно опускаются на землю снежинки тополиного пуха. В комнате, где находится балкон, тихо. Бабушка на кухне, готовит еду. Дедушка ушёл за продуктами. Он каждый день ходит гулять и во время своих длинных прогулок покупает продукты. Летом он часто приносит мороженое – пломбир в вафельных стаканчиках, иногда с изюмом и орехами. Для меня это настоящий праздник.

Квартира бабушки и дедушки находится на той же лестничной площадке, что и квартира, где живу я с родителями. Поэтому я часто бываю у бабушки с дедушкой. Не только в будние дни во время школьного года, но и в выходные, на каникулах или по вечерам. Я очень люблю проводить время у бабушки с дедушкой. У них мне всегда уютно, спокойно и интересно. (Дома, конечно, тоже хорошо, но у бабушки с дедушкой царит особая атмосфера покоя и защищённости.)

А вот ещё одно воспоминание. Дедушка сидит за столом в гостиной, так называемой большой комнате, служащей дедушке с бабушкой одновременно и спальней, так как в другой комнате живёт мой дядя, мамин брат. Дедушка сидит за столом и делает запись в дневнике, который он ведёт регулярно. Туда он записывает не только то, что произошло в этот день в его жизни и  в мире, но также то, какая сегодня была погода, что интересного он увидел во сне. На серванте стоит клетка зелено-жёлтого волнистого попугайчика Петруши, дедушкиного и бабушкиного любимца. Клетка пуста, так как Петруша сидит на столе и пощипывает края дедушкиного дневника. Дедушка время от времени журит попугайчика, отмахивается от него, но тот снова и снова возвращается к тетради. На столе рядом с дедушкой стоит радиоприёмник – транзистор, как он его называет. Дедушка любит слушать радио: новости и разные другие передачи, радиопьесы. Я тоже очень люблю слушать радиопьесы по дедушкиному радио, часто это детективные истории. Я лежу на кровати с закрытыми глазами и полностью погружаюсь в мир героев пьесы.   

А вот я сижу на кухне. Бабушка суетится у плиты. На плите кипит суп, жарятся котлеты. Бабушка что-то рассказывает мне, улыбается своей прекрасной улыбкой с ямочками на щеках.

Перед моим внутренним взором возникает ещё одно воспоминание. Вечер. На кухонный стол разливает мягкий жёлтый свет настольная лампа. За столом сидим бабушка и я. Бабушка читает мне вслух какую-то детскую книгу. Может, это «Приключения муравья Ферды», или «Незнайка на Луне», или «Приключения Хомы и Суслика». На столе стоит чайник, две чашки с чёрным чаем и тарелочка с бутербродом с сыром, который бабушка порезала на маленькие кусочки, потому что мне так интереснее есть. Я завороженно слушаю, как бабушка читает, и время от времени кладу в рот маленький кусочек бутерброда с сыром и запиваю его чаем. За окном темно, на кухне тепло и уютно. Меня охватывает ощущение тихого счастья и умиротворённости.

У меня есть ещё много других воспоминаний из детства. Все они – мой внутренний мир, моё богатство, мой источник сил и радости, тихая гавань, куда я всегда могу вернуться и где могу укрыться от жизненных бурь.

 


Übersetzt von der Autorin.