Traude Pillai-Vetschera  (Univ.-Doz. Dr.) Traude Pillai-Vetschera ist Südasienexpertin, sie unternahm zahlreiche Forschungsreisen nach Indien und lehrte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Neben zahlreichen Fachpublikationen veröffentlichte sie 2014 ihre Biographie „Ausgerechnet Indien!“. Sie lebt in Wien und Sardinien.

 

 

 

Ravi und die Fische

 

 

Sunita erwachte. Wie so oft in den letzten Wochen hatte sie das leise Stöhnen geweckt und diese kleinen, abgehackten Geräusche, die wie unterdrücktes Wimmern klangen. Langsam und vorsichtig ließ sie die Beine aus dem Bett gleiten, um Sanjay nicht zu wecken. Der aber schlief ohnehin tief und fest. Er war am Abend zuvor spät und etwas angetrunken heimgekommen, wie es schon öfter geschehen war, seitdem es diese Dirne im Dorf gab, nach der alle Männer verrückt waren. Sunita unterdrückte ihren Ärger und ging auf nackten Sohlen zur anderen Ecke der Hütte, in der Ravi auf seinem charpoy lag und sich in seinem Schlaf unruhig hin und her warf. Er hat wieder seine Albträume, dachte sie. Je näher der Tag der Prüfung rückte, desto schlimmer wurden seine Ängste, desto ärger wurde seine Unruhe. Wie lange war es jetzt schon her, dass er eine ruhige Nacht verbracht hatte, nicht von den Monstern träumte, die ihm Fragen stellten, ihn verhöhnten und ihn allen möglichen Torturen unterwarfen, wenn er die richtigen Antworten nicht parat hatte. Sie berührte sachte die Stirn ihres Sohnes, strich das schweißnasse Haar vorsichtig ein wenig zurück. Er wachte nicht auf, aber die Berührung tat ihm offenbar gut, denn er wurde etwas ruhiger. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Wut auf Sanjay, der darauf bestanden hatte, dass sein Sohn die Schule besuchen und die Abschlussprüfung machen müsse. Ravi wäre viel lieber Bauer oder Busschaffner geworden, wie sein Vater. Er hatte nie lernen wollen, die Bücher interessierten ihn nicht – ganz im Gegensatz zu seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Kusum. Sie war gerne zur Schule gegangen, hatte geweint und gebettelt, als Sanjay nach sechs Schuljahren beschlossen hatte, dass sie daheim bleiben und ihrer Mutter im Haus und auf dem Feld helfen müsse. Sunita hatte der Tochter beistehen wollen, hatte beteuert, dass sie die Arbeit auch alleine bewältigen konnte, falls Kusum weiterlernen wollte, hatte versucht, sich gegen die Tyrannei ihres Mannes aufzulehnen. Er hatte sie damals verprügelt und am nächsten Tag Mutter und Tochter nochmals lautstark seinen Willen kundgetan. Ravi als der älteste Sohn werde die Schule abschließen, dann auch noch weitere Ausbildungen machen und schließlich eine Anstellung im Staatsdienst erreichen. Kusum sei nur ein Mädchen, für das er im geeigneten Moment einen Mann finden werde. Es sei völlig nutzlos, ein Mädchen lernen zu lassen, denn niemand wolle eine „gebildete Braut“, die dann womöglich glaube, klüger oder besser als ihr Ehemann zu sein, und die sich nicht unterordnen würde. Außerdem wäre das Geld zu knapp, um auch noch ein Mädchen lernen zu lassen, reichte es doch kaum für den Schulbesuch Ravis und seines um ein paar Jahre jüngeren Bruders.

 

Jahre waren seither vergangen, in denen Sunita sogar einmal versucht hatte, von zu Hause auszureißen, weil sie von einer Waisenschule in einem größeren Dorf in der Nähe gehört hatte. Sie hatte gehofft, mit einer kleinen Lügengeschichte dort aufgenommen zu werden. Aber ihr Plan war schief gelaufen, Sanjay hatte sie gefunden, heimgebracht und so lange geschlagen, bis sie reglos auf dem Boden liegen geblieben war. Sunita hatte die Tochter ins Missionsspital bringen wollen, doch Sanjay hatte das verhindert. Kusum hatte keine bleibenden körperlichen Schäden davongetragen, doch sie war zu einem verschlossenen, wortkargen Wesen geworden, das sich nie mehr gegen den Vater aufgelehnt hatte. All das ging Sunita durch den Sinn, während sie sanft Ravis Kopf weiterstreichelte.

 

Der Tag der Prüfung rückte immer näher, und Ravis Zustand verschlimmerte sich. Er konnte kaum noch essen, saß nachts lange über seinen Büchern und Heften, und schließlich sagte er seiner Mutter unter Tränen, dass er nicht zu der Prüfung antreten könne. Er habe zwar alles gelernt, aber seine Angst sei unüberwindbar groß. Er werde am Prüfungstag so aus dem Haus gehen, als ginge er zur Prüfung, aber er werde in Wahrheit das Dorf verlassen und nie mehr zurückkommen.

 

Sunita war verzweifelt. Wem konnte sie sich anvertrauen? Sicher nicht Sanjay, der wie immer ihr an allem die Schuld geben würde. Wen konnte sie um Rat fragen? Schweren Herzens ging sie zu Tulsa, einer alten Nachbarin, die viele Dinge wusste, von denen die Jüngeren keine Ahnung mehr hatten. Tulsa hörte Sunitas Klagen an, ohne sie zu unterbrechen. Schließlich bewegte sie in der ihr eigenen Art den Kopf hin und her und murmelte, „Vielleicht gibt’s einen Ausweg, vielleicht könnte das helfen“. Die Alte schwieg eine Weile, dachte offenbar nach. Schließlich fragte sie unvermittelt „Sind noch Fische im Fluss?“ Sunita sah sie verständnislos an. Was sollte die Frage? War Tulsa plötzlich auch verrückt geworden wie der alte Anthony, der dauernd panische Angst davor hatte, dass ihm ein Gecko in den Teller fallen und er ihn verschlucken könne. Aber Tulsa sah nicht verrückt aus, und sie sprach auch gleich weiter. „Ich bin schon lange nicht mehr über den Fluss gegangen, meine Beine wollen nicht mehr. Früher waren immer Fische unter der Brücke. Sind die noch dort?“ Sunita war immer noch konfus, doch sie sagte, „Ja, ja, sie sind noch dort. Aber warum willst du das wissen?“ Nun lächelte Tulsa schlau. „Es gibt einen Weg, um Ängste, schlechte Gedanken und Träume loszuwerden“. Also doch, die Alte hatte eine Idee. Sunita hatte es gewusst. Tulsa fuhr fort: „Du musst dich mit einem Sack Puffreis auf die Brücke stellen und ein paar Körner ins Wasser werfen. Die Fische werden kommen. Dann streust du langsam den Reis ins Wasser und dabei musst du an deine Ängste denken, an alles, was dich belastet. Die Fische fressen den Reis, aber sie fressen auch deine Angst, deine schlechten Träume – sie fressen alles, woran du denkst, und dein Kopf wird wieder leicht und frei“. Sunita sah die Alte verwundert an. „Du glaubst, dass das funktioniert?“, fragte sie. „Aber ja, Töchterchen, es funktioniert immer“.

 

Dankbar und erleichtert eilte Sunita zu ihrer Hütte und machte sich gleich daran, eine ganze Schaufel voll Reis in einer Eisenpfanne zu rösten, um Ravi einen großen Sack Puffreis mitgeben zu können. Der Sohn war bei einem Schulfreund, um ein letztes Mal noch ein paar Prüfungsfragen zu besprechen. Als er heimkam, erzählte ihm die Mutter von Tulsas Geheimrezept, doch er war skeptisch. „Das ist Unsinn, das kann nicht sein“, meinte er, „Wie sollen denn die Fische meine Angst fressen können?“ „Versuch es wenigstens“, drängte die Mutter. Ihr waren allerdings inzwischen selbst auch schon Zweifel gekommen – vielleicht war Tulsa ja doch nur eine freundliche, abergläubische Alte.

 

Am nächsten Morgen zog Ravi ein frisches, weißes Hemd und eine lange Hose an und Sunita dachte bei sich, dass er ein wirklich gut aussehender Bursche war. Er richtete seine Mappe her, und beim Weggehen drückte ihm Sunita den Sack mit dem Puffreis in die Hand. „Probier es, du verlierst ja nichts“, flüsterte sie. „Denk an deine schlechten Träume, an deine Angst, an die Lehrermonster – und füttere dabei die Fische“. Er nickte und ging.

 

Am Fluss kam ihm der ganze Plan völlig albern vor. Er würde den Sack einfach wegwerfen, zum Schultor gehen und dort entscheiden, ob er hineingehen – oder, wenn die Panik unerträglich war – einfach in irgendeinen Bus einsteigen und auf Nimmerwiedersehen aus dem Dorf verschwinden würde. Als er schließlich über die Brücke ging, schaute er doch hinunter ins Wasser und sah die Fische. „Nun gut, ich füttere euch“, sagte er zu sich und warf eine Handvoll Reis in den Fluss. Sofort schwammen alle zu den Körnern, verschluckten sie und es schien ihm, als ob sie danach hoffnungsvoll zu ihm aufschauten. Und plötzlich fühlte er sich um vieles leichter, weniger bedrückt. „Das funktioniert ja tatsächlich“, dachte er verwundert und warf noch eine Handvoll Körner in den Fluss, dachte an die Fratzen der Professorenmonster, die ihn in seinen Träumen gequält hatten, und er konnte ganz plötzlich darüber lachen und fragte sich, wovor er denn solche Angst gehabt hatte. Auf einmal fielen ihm auch ganze Teile des Prüfungsstoffes ein, der nun gar nicht mehr so unverständlich und schwierig schien. Während er den Reis verfütterte, ging er in Gedanken Jahreszahlen, Mathematikformeln, Definitionen durch. Ja, er wusste alles. Wozu noch zittern? Als der Sack leer war, warf er ihn hinunter ins Wasser und winkte den Fischen zu. Beschwingten Schritts ging er auf seine Schule zu, wo sein Schulkollege vor dem Tor auf ihn wartete und sich wunderte, den Freund so fröhlich zu sehen. „Was ist mit dir los? Hast du keine Angst mehr?“ „Gar keine“, strahlte Ravi.

 

Eine Stunde später saß er vor den Zetteln mit seinen Prüfungsfragen - und da standen fast genau die Fragen, die er auf der Brücke nochmals durchgegangen war. Zufrieden lächelte Ravi, holte tief Luft, bevor er die Antworten eine nach der anderen niederschreiben würde. Er warf noch einen Blick auf seine Schulkollegen, von denen manche wie hilflos auf ihre Zettel starrten. Dann holte er den Kugelschreiber aus seiner Mappe, um die Fragen der Reihe nach zu beantworten. Doch wo waren die Antworten? Sein Gehirn war wie leergefegt. Seine Prüfungsangst war weg, doch auch die Antworten auf alle Prüfungsfragen waren aus seinem Gedächtnis verschwunden. Die Fische hatten nicht nur die schlimmen, sondern all seine Gedanken, die auf der Brücke durch seinen Kopf gegangen waren, zusammen mit dem Puffreis verschluckt.

 

 

****

 

Der junge Journalist wirkte etwas verlegen. Er hantierte an seinem Aufnahmegerät, fischte ein Notizheft aus seiner Tasche und suchte nach einem Kuli, bevor er sich endlich niedersetzte und sein Gegenüber direkt ansprach: „Mr.Ravi, ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch nehmen. Ich habe in einer Lokalzeitschrift eine interessante Geschichte über einen jungen Burschen, über Fische und eine verpatzte Prüfung gelesen, und ich würde gerne eine Radiosendung darüber machen. Die Leute im Dorf behaupten, dass sich all das tatsächlich zugetragen hat und dass Sie dieser junge Mann waren?“ „Ich habe den Bericht auch gelesen – und ja, es hat sich alles genauso zugetragen“, nickte der andere. „Und stimmt auch, was die Dorfbewohner sagen - dass Sie Tulsa nicht böse waren, sondern sich im Gegenteil um sie kümmerten und, als sie in hohem Alter starb, sogar für ihre Bestattung sorgten?“ Der ältere Mann sagte nichts, doch er bewegte zustimmend seinen Kopf. „Das verstehe ich nicht“, meinte der Journalist. „Hat Ihnen diese Frau durch ihren Rat, die Fische zu füttern, nicht Schaden zugefügt? Vielleicht eine zukünftige Beamtenlaufbahn unmöglich gemacht?“ „Ganz im Gegenteil“, antwortete Ravi. „Ich wollte niemals mein Leben als Beamter in einem Büro verbringen, und nur durch Tulsa konnte ich werden, was ich heute bin – ein zufriedener Bauer. Sehen Sie - die Fische haben damals mein Prüfungswissen verschluckt, aber gleichzeitig auch all meine Furcht und meine Zweifel. Ich hatte plötzlich keine Angst mehr vor einer Auseinandersetzung mit meinem Vater, zu der mir immer der Mut gefehlt hatte. Nach dieser schiefgelaufenen Prüfung bin ich direkt zu ihm gegangen und habe das erste Mal geschafft, meinen Willen durchzusetzen – nicht mehr an die Schule zurückzugehen, sondern Bauer zu werden. Endlich das zu tun, was ich schon immer hatte tun wollen: endlich unsere Bewässerungsmethoden verbessern, den Anbau von Weizen versuchen. Es hat geklappt, und wir konnten unsere Erträge steigern. Dann hatten wir Glück, es wurde der Kanal gebaut und wir waren die ersten, die auf Zuckerrohr umstiegen. Wir verdienten gut, konnten Land zukaufen, und heute werden wir im Dorf geachtet. Man hat mich sogar zum Sarpanch gewählt“, lachte Ravi nun. „Da gratuliere ich“, sagte der junge Mann höflich und fügte dann hinzu, „Darf ich Sie zum Abschluss noch fragen, was aus Ihrer traurigen kleinen Schwester geworden ist?“ „Kusum? Sie ist nicht mehr traurig. Sie durfte zurück an die Schule, und im Gegensatz zu mir hat sie all ihre Prüfungen bestens bestanden, schließlich sogar am Medical College. Jetzt arbeitet sie als Ärztin im Spital.“ „Und sie wurde nicht verheiratet?“ Wieder lachte Ravi. „Nein, sie wurde nicht verheiratet, aber sie hat geheiratet – einen Kollegen. Und wenn stimmt, was mir freundliche Stimmen zugeflüstert haben, werde ich demnächst sogar Onkel!“ - Nun lächelte auch der Journalist, während er seine Aufnahmen kontrollierte und sich für das Gespräch bedankte.

 

 

Ravi and the Fish

 

 

 

 

 

Sunita woke up. As so often in the past few weeks, she had been woken up by the low moaning and those little, choppy noises that sounded like suppressed whimpers. Slowly and carefully she let her legs slide out of bed so as not to wake Sanjay. But he slept soundly anyway. He had come home late the night before and also a little drunk, as had happened several times since this new young whore, who all men were crazy about, had settled in the village. Sunita suppressed her anger and went on bare soles to the other corner of the hut, where Ravi was lying on his charpoy, tossing restlessly to and fro in his sleep. He's got his nightmares again, she thought. The closer the day of the exam drew nearer, the worse his fears and his restlessness became. How long had it been since he had spent a quiet night, not dreaming about monsters that asked him questions, made fun of him and subjected him to all kinds of tortures if he didn't have the right answers. She gently touched her son's forehead, carefully brushed back his sweaty hair. He didn't wake up, but the touch seemed to relieve his anxiety a little because he calmed down. She felt anger rise within her. Anger at Sanjay for insisting that his son go to school and take the final exam. Ravi would much rather have been a farmer like his father. He had never wanted to study, the books didn't interest him - in contrast to his younger sister Kusum. She had loved going to school, had cried and begged when, after six years at school, Sanjay decided that she had to stay at home and help her mother in the house and in the fields. Sunita had tried to support her daughter, had insisted that she could manage the work alone if Kusum wanted to continue studying, had tried to rebel against her husband's tyranny. He had beaten her up and the very next day he had clearly and in a loud voice declared his will to mother and daughter: Ravi, as the eldest son, was to graduate from school, then do further training and finally try to get a job in the civil service. Kusum was only a girl for whom he would find a husband in due time. It was completely useless to let a girl study, because no one wanted an "educated bride" who might believe to be smarter or better than her husband and who would not submit. In addition, the money was too scarce to let a girl study, as there was hardly enough to send the two boys - Ravi and his brother, who was a few years younger -   to school.

 

 

 

Only a few years had passed since. Once Kusum had tried to run away from home after hearing about an orphan school in a larger village nearby. She had hoped to be accepted there making up a little story of lies. But her plan had gone wrong, Sanjay had found her, brought her home and beaten her until she lay motionless on the floor. Sunita had wanted to take the daughter to the mission hospital, but Sanjay had prevented that. Kusum had sustained no permanent physical damage, but she had become a closed, taciturn being who had never again rebelled against her father. All of this passed through Sunita´s mind as she gently stroked Ravi's head.

 

.

 

The day of the exam drew nearer and Ravi's condition worsened. He could barely eat, sat over his books and notebooks for a long time at night, and finally, with tears, he told his mother that he could not go for the exam. Although he had studied so hard, his fear was insurmountable. On the very day of the exam he would leave the house as if he were going for his exam, but actually he would leave the village and never come back.

 

 

 

Sunita was desperate. Whom could she talk to, whom could she ask for advice? Certainly not Sanjay, who always blamed her for everything that went wrong. With a heavy heart, she went to Tulsa, an old neighbor who knew many more things than the younger generation. Tulsa listened to Sunita's complaints without interrupting her. Finally she moved her head back and forth and mumbled, "Maybe there is a way out, maybe that could help". The old woman was silent for a while, evidently thinking. Finally she suddenly asked "Are there still fish in the river?" Sunita looked at her aghast. What strange question! Had Tulsa suddenly gone mad like old Anthony, who was always terrified of a gecko falling into his plate and swallowing it. But Tulsa didn't look crazy, and she went on straight away. “I haven't crossed the river for a long time, my legs don't carry me anymore. But before, there used to be fish under the bridge. Are they still there? " Sunita was still confused, but she said," Yes, yes, they are still there. But why do you want to know? ” Tulsa smiled slyly. "There is a way to get rid of fears, bad thoughts and dreams". Well, the old woman had an idea. Sunita had known. Tulsa continued, “You have to go to the bridge with a sack of puffed rice and throw a few grains into the water. The fish will come and eat them. Then you have to continue to feed them, and at the same time you have to think about your fears, about everything that burdens you. The fish eat the rice, but they also eat your fears, your bad dreams – actually they swallow everything you think about and your head becomes light and free again ”. Sunita looked doubtfully at the old woman. "You think that can work?" she asked. “But yes, my dear, it always works”.

 

 

 

Sunita rushed home and immediately began to roast rice in an iron pan in order to prepare a large sack of puffed rice for Ravi. The son had gone out to see a friend from school to go over a few exam questions for a last time. When he came home his mother told him about Tulsa's advice, but he just shrugged his shoulders. "That's nonsense, it can't be," he said, "How can the fish be able to eat my fears and my thoughts?" "Try at least," urged the mother. But by now she had doubts herself - maybe after all Tulsa was just a friendly, superstitious old woman.

 

 

 

The next morning Ravi put on a fresh, white shirt and long trousers and Sunita thought to herself that he was a really good looking guy. He prepared his portfolio, and as he left, Sunita pushed the sack of puffed rice into his hand. "Try it, for my sake. You don't lose anything," she whispered. He just nodded and left.

 

 

 

When he approached  the river the whole plan struck him as completely stupid. He would throw the sack away, walk up to the school and decide on the spot whether to go in - or, if the panic attacs were unbearable - just get on some bus and disappear for good from the village. When he finally started crossing the bridge, he looked down into the water and saw the fish. "Ok, I'll feed you – just for fun" he told himself and threw a handful of rice into the river. Immediately the fish came, swallowed the grains and he got the impression that they looked up at him hopefully. And suddenly he felt a lot lighter, less depressed. "It actually works," he thought in amazement and threw another handful of rice into the water, while he thought of his nightmares, of the grimaces of his teachers who had tormented him in his dreams, and all of a sudden everything seemed absolutely ridiculous and he wondered what he had been scared of. Suddenly also large parts of the exam material came to his mind, which now no longer seemed incomprehensible and difficult. While he was feeding the fish, his mind went through the dates, mathematical formulas, and definitions. Yes, he knew everything. Why being nervous? When the sack was empty, he threw it down into the river and waved to the fish. He continued his walk happily, and when he reached the school he found his friend waiting for him at the gate and wondering how Ravi could look so relaxed. "What´s wrong with you? Aren't you afraid anymore? ” he asked. “ Not at all”, beamed Ravi.

 

 

 

Some time later Ravi was sitting in front of the sheets of paper with the exam questions - and there were almost exactly the questions he had gone through again on the bridge. He smiled contentedly, took a deep breath before he would write down  the answers one by one. He glanced at his schoolmates, some of whom were staring helplessly at their sheets. Then he took the pen out of his portfolio to start writing. But what to write? Where were the answers to the questions? His brain was swept clean. His exam anxiety had completely gone, but also all the material he had studies, all the answers to all the exam questions were gone from his mind. Not only had the fish along with the puffed rice swallowed his bad thoughts, but they had swallowed everything  that had crossed his mind while he had stood on the bridge..

 

****

 

 

 

The young journalist looked a little embarrassed. He fiddled with his recording device, rummaged around in his bag for a notebook and a pen before finally sitting down and addressing directly the person who already was sitting at the other side of the little round table: “Mr. Ravi, thank you for taking the time to talk to me. I have come to you because I read an interesting story in a local magazine about a young guy, about fish, and a failed exam, and I'd like to do a radio program on this extraordinary story. People in the village told me that all of this has really happened and that you were that young man? ” The other one nodded, “Yes, I have seen the story - and yes, it all happened the same way.” "But - is it also true what the villagers say - that you weren't angry with Tulsa, but on the contrary you took care of her when she grew weak and, when she died of old age, even arranged for the last rites?" The older man said nothing, but he moved his head in agreement. “I don't understand,” said the journalist. “This woman harmed you by giving you the advice to feed the fish, isn´t it? Probably she ruined the possibility for a future civil servant career. And you were not furious with her? ”“ On the contrary, ”replied Ravi. “I never wanted to spend my life as a civil servant, being confined most of the time to an office. Only through Tulsa have I become what I am today - a happy farmer. You see – that time the fish swallowed everything I had studied for my exam, but at the same time they also swallowed all my fears and doubts. Suddenly I was no longer afraid of an argument with my father.. After this failed exam, I went straight to him and for the first time in life I managed to get my way - not to go back to school, but to become a farmer. Finally to do what I always had wanted to do:  improve our irrigation methods, try to grow wheat. It worked and we were able to increase our earnings. Then we were really lucky, because a few years later the dam was built. Suddenly there was much more water and we were the first to try to grow sugar cane. We earned well, were able to buy more land, and today we are respected in the village. Recently I was even selected Sarpanch”, smiled Ravi. “My congratulations,” said the young man politely and then added, “May I finally ask you what happened to your sad younger sister?” “Kusum? She is no longer sad. She was allowed back to school, and unlike me, she passed all of her exams successfully, finally even medical college. Now she works as a doctor in the city hospital. ”“ And her marriage was arranged? ”Ravi laughed again. “No, her marriage was not arranged, but she got married – with the surgeon. By now they have two children, who quite often come to see us, as they like to play with my own kids. ”- Now also the young journalist smiled, while he checked his recordings and thanked Ravi for the interview.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von fremden Kleidern und Masken

 

 

 

 „In den Schuhen des Fischers“ war der Titel eines Filmes, in dem Anthony Quinn einen Russen spielt, der zum Papst gewählt wird. Er muss in die Schuhe Petris schlüpfen und der Spur dessen folgen, den Jesus zum „Fels“ erklärt hatte, auf dem er seine Kirche errichten wollte. „Die Schuhe eines anderen anziehen“, oder, wie man auf italienisch sagt, „mettersi nei panni di un altro“ (das Gewand eines anderen anlegen) -  um damit einen Teil der Identität dieses anderen zu übernehmen, sich anzueignen, sich durch das Anlegen äußerer Merkmale teilweise mit diesem anderen zu identifizieren?

 

In jungen Jahren, auf der Suche nach der eigenen Persönlichkeit, mag dieses „in die Kleider eines anderen schlüpfen“ besonders häufig und auch wichtig sein. Ich erinnere mich, mit welcher Begeisterung ich Schuhe mit einem etwas höheren Absatz anprobierte, die meiner Mutter gehörten, wie glücklich ich war, als meine Füße endlich groß genug waren, um ein paar Schritte mit den Stöckelschuhen gehen zu können ohne hinzufallen und mir die Beine zu brechen. Heimlich zog ich sie an, ging damit sogar hinaus, stolzierte auf der Straße herum und fühlte mich „damenhafter“, meine Mutter ähnlicher. Wenn dann vielleicht noch ein Nachbar oder eine Nachbarin vorbeikam und feststellte, dass ich ja „schon ganz erwachsen“ aussehe, muss ich mich vor Stolz noch mehr aufgeplustert haben. Zumindest kurzfristig das alltägliche ICH hinter sich lassen, ein neuer, anderer Mensch sein.

 

Die Vorstellung, für eine Weile ein anderer Mensch zu sein, eine andere Rolle spielen zu können, ist wohl auch beim Anlegen von Faschingskostümen nicht unwichtig. Ob der Araberscheich heimlich von einem Harem träumt, sich die Hexe magische Fähigkeiten wünscht, um sich wie die bezaubernde Jeannie die Arbeit im Haushalt zu erleichtern? Eine Prinzessin – auch eine im Volksschulalter – rennt nicht und brüllt nicht, sondern tut vornehm und blasiert, beansprucht Privilegien und ist eigentlich empört, wenn andere in ähnlicher Aufmachung mit ihr in Konkurrenz treten. Mit einem wunderschönen Torero-Kostüm, das mir eine Freundin für eine Faschingsparty borgte, als ich 18 oder 19 war, wurde mein Gang auf einmal federnder, die Gesten weiter ausholend, das Lachen selbstsicherer. Ein Torero ist furchtlos, er lebt mit der Gefahr, begegnet ihr täglich in den blutunterlaufenen Augen des gereizten Stiers. Ob sich das unwillkürlich ein wenig durch das Kostüm überträgt?.

 

Zu vielen Kostümen – und keineswegs in erster Linie zu Faschingsverkleidungen - gehören auch Masken, die Menschen in Dämonen, in gute Geister, in ätherische Wesen verwandeln, die bei Tänzen, Umzügen und Zeremonien wichtige Rollen spielen. Beispiele lassen sich auf der ganzen Welt finden. In unserer näheren Umgebung vor allem in den Bergregionen, wo z.B. die „schiachen“ und schönen Perchten an bestimmten Tagen ihr Unwesen treiben. Nicht zu altem Kulturgut gehörten allerdings Masken, die Bankräuber und Terroristen tragen, um nicht erkannt zu werden. Es wurden Gesetze erlassen, um das Gesichtverbergen zu verbieten. Zur Zeit allerdings gibt es Vorschriften, genau das zu tun, was zuvor verboten war – und es gibt Strafen, wenn man sein Gesicht nicht bedeckt. Corona macht es möglich, will uns alle über einen Kamm scheren, uns alle vereinheitlichen. Aber so einfach ist das nicht – denn schon gibt’s Gesichtsmasken in verschiedenen Varianten: farblich der Garderobe angepasst, mit aufgedruckten Vampirzähnen oder Kussmündchen.....und mit einiger Phantasie können wir uns also sogar mit Coronamasken wieder fiktive Identitäten schaffen.

 

Um zur Verkleidung zurückzukommen - um „Verkleidung“ in einem etwas anderen Sinn ging es bei der Putzfrau, die einmal pro Woche zu meinen Eltern kam. Sie betreute auch die Wohnung einer bekannten Politikerin, die großen Wert auf ihr Äußeres legte und ihrer „Perle“ hübsche Kleidungsstücke überließ, die sie selbst nicht mehr anzog. Und so kam denn die Haushaltshilfe meiner Mutter in einem eleganten Rohseidenkostüm im Auto vorgefahren, ganz als „besuchende Dame“ verkleidet. Sie zog sich dann freilich um, um ihre Arbeit zu verrichten, wobei aber die Äußerlichkeiten wichtiger waren als die Fakten. Auf den ersten Blick sah die Wohnung zwar einigermaßen sauber und wohlgeordnet aus, doch bei genauerem Hinsehen wurde schnell klar, dass die Putz-Dame offensichtlich  nur ungern die gepflegten Hände durch Putzmittel und nasse Lappen mehr als nötig strapazierte.

 

Können  also Kleider wirklich auf unser Tun, unsere Haltung, einwirken? Können Kleider oder Kostüme anderer – auch fiktiver – Peson (wie z.b. des Toreros) unsere Identität, wenn auch nur ein wenig und kurzfristig, beeinflussen? Die italienische Redewendung deutet darauf hin – „mettiti nei miei panni“, ziehe mein Gewand an, versetze dich dadurch in meine Lage, an meine Stelle, lerne dadurch, die Dinge aus meiner Sichtweise zu betrachten. Aber auch noch etwas ganz anderes können Kleider, vor allem wenn es sich dabei um Kleidungsstücke eng vertrauter Personen handelt. Sie können dabei helfen, Nähe, Vertrautheit, Intimität zu spüren, wenn man sie anlegt oder zumindest berührt. Seinen Pullover anziehen, ihren Schal um den Hals wickeln, in dem noch ein kaum spürbarer Hauch von Parfum gefangen ist. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass ein geliebter Mensch weggeht, aber ein von ihm getragenes Kleidungsstück zurückbleibt. Du kannst es in die Hand nehmen, die Augen schließen, daran schnüffeln...  und dir zumindest für eine Weile die verlorene Nähe zurückträumen und vielleicht damit die Wartezeit verkürzen, bis er oder sie tatsächlich wieder in dein Leben zurückkommt.