Theresa Zischkin  ist Studentin der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie an der Universität Wien. In einem Antiquitätengeschäft arbeitet sie nebenbei als kuratorische Assistentin. Inspiration für ihre Geschichten schöpft sie aus Museumsspaziergängen, Klavierspielen und japanischem Schwertkampf.

 

 

 

Segen oder Fluch?

 

Elegua

 

 

Zum Abschied schenkte mir E. ein handgefertigtes Objekt, das die Jahre unseres Zusammenseins widerspiegelte. Es sollte mich auf meinem weiteren Weg beschützen, denn das wäre dringend nötig, doch ich müsste mich fürsorglich darum kümmern. Die Sonderbarkeit des plötzlichen Geschenks ebenso wie die Vehemenz der Bitte ließen mich stutzen. Noch immer rühre ich ungern die steinerne Kälte dieser Gestalt an, auch wenn mich seine Augen stets durch das Zimmer verfolgen und mich an jenes Ereignis erinnern, das sich vor Jahren zugetragen hat ...

 

 

An einem heißen Augustnachmittag lief ich mit E. einen Strand nahe Havanna entlang. Der heiße Sand quoll durch meine nackten Zehen und brandmarkte meine bloßen Fußsohlen wie Lava. Doch ich hatte eine Fährte aufgenommen und nichts konnte mich stoppen. Eifrig wanderte mein Blick zwischen den dunkelgrünen Algen, dem verworrenen Seegras und den gezackten schwarzen Korallenbündeln, die aussahen wie Gerippe von Fischflossen, hin und her. Schon häufiger hatte mich die einheimische Bevölkerung argwöhnisch gemustert, wenn sie meinen bis zum Bersten gefüllten Korb mit angespültem Meeresgut erspähten; doch ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich war immer gerne in Kunstkammern und Kuriositätenkabinetten umhergewandert, und hier in der Karibik fand ich so etwas wie den Ursprung meiner eigenen Kuriositätensammlung.

 

Diese Sammelleidenschaft hatte ich bereits als Kind entwickelt, als ich die Schneckenhäuser in unserem Garten auflas und, trotz der Überredungskünste meines Vaters, dass doch alle gleich aussehen würden, genau wusste, dass nicht eines dem anderen glich und ihre changierten Farbnuancen und ihre Einkerbungen und Wachstumsringe ganz individuelle Geschichten erzählten. Mit Muscheln war es ähnlich; doch bereits nach meinem ersten Besuch auf Kuba hatte mich das Muschelsammeln nicht mehr gereizt; denn zu viele Exemplare zierten bereits das Strandhaus der Mutter von E. Kubaner sahen darin in erster Linie Souvenirverwertungsmöglichkeiten oder Gartenschmuck für Blumentöpfe, anders als europäische Vorstellungswelten des 18. oder 19. Jahrhunderts, die allerlei exotisches Gut in den irrwitzigsten Zusammensetzungen geprägt hatten. Ich war wählerischer geworden und nur mehr auf der Suche nach besonders schönen Exemplaren: Dabei ging es aber nicht um den perfekten Erhaltungszustand der Muscheln, sondern um etwas ganz Anderes. Um etwas Besonderes. Mich faszinierten vor allem Farben und Formen, wie die grell-orangefarbenen Jakobsmuscheln oder die zart rosa Innenseiten, die Flügel, der Strombus Gigas. Die Wesen, die diese wunderschönen Riesenmuscheln allerdings bewohnten, waren eher unheilvollen Albträumen entsprungen und ließen mich an Alieninvasionen denken. Ich bekam noch immer eine Gänsehaut, wenn ich an den langgezogenen, fleischfarbenen Schneckenkörper dachte, mit seinen regenerierbaren Fühlern, auf denen je ein Linsenauge mit gelber Iris saß. Ich erschauderte.

 

 

„Sammeln darfst du es, exportieren nicht“, meinte E. mit hochgezogener Augenbraue, als ich mich nach einem Exemplar schwarzer Koralle bückte. Ich schmollte und legte es trotzdem sorgfältig in den Korb. Schwarze Korallen waren teuer, wenn sie zu Schmuckstücken geschliffen wurden, doch mir gefiel die raue Form der Kämme besser, die an den Strand gespült wurden. Von der Sonne getrocknet und ausgeblichen sahen sie tatsächlich aus wie knöchrige Überreste von Tieren. Und Skelette hatte ich seit ich denken konnte als sehr spannend empfunden. Nicht umsonst hatte ich schon eine Sammlung von teilweise im Wald aufgefundenen und teilweise vom Schlachter oder Jäger zur Verfügung gestellten Tierschädel. Doch auch knorrige Holzstücke, die mir eine Geschichte zu erzählen schienen, schafften es in meine Sammlung. Auch neuzeitliche Scherben mit sonderbar-bunten Glasuren des 18. oder 19. Jahrhunderts, die ich in den vergessenen Arealen Havannas als Oberflächenfunde mitgenommen hatte und dabei Kopfschütteln und schmunzelnde Blicke von dem Team des Gabinete de Arqueologia de La Habana Vieja1 erntete. "¡Un achica extraña!"2, pflegten sie zu sagen.

 

 

Plötzlich erspähte ich etwas auf den heißen Steinen, etwas abseits vom Meer. „Schau!“, rief ich aufgeregt. „Ein Schädel!“ Tatsächlich hatten wir einen vom Meer ausgewaschenen und von der Sonne gebleichten Meeresschildkrötenschädel gefunden. „Das passiert manchmal“, erklärte E. „Wenn sich Schildkröten in die Netze der Fischer verfangen, ersticken sie und dann werden ihre Teile gegessen oder weiterverarbeitet.“ Ich runzelte die Stirn. Schildpatt war bereits in der Vergangenheit ein teures Gut gewesen, und ich konnte mir gut vorstellen, dass die Fischer diese Beute gerne im Netz sahen, um sich ein oder zwei Pesos dazu zu verdienen. Behutsam hob ich den Schildkrötenkopf hoch – es war, als wäre er bereits gekocht und mit Bleichmittel geweißt worden – und versteckte ihn in meinem Korb unter den Fächerkorallen und Kokosnussschalen. Die Mutter von E. wusste, wie man diese Art von Korallen ästhetisch im Garten präsentieren konnte und hatte mich gebeten, ein paar größere Exemplare mitzunehmen. Mit einem Blick auf die Uhr wurde mir bewusst, dass wir uns auf den Rückweg machen sollten.

 

 

Es war kein langer Weg, doch meine Füße versanken im heißen Sand und die Nachmittagssonne in der Karibik brannte gnadenlos herab. Das Sammeln hatte mich auch hungrig gemacht. Würde es heute wieder Fisch mit Reis und Avocado geben? Oder die seltenen, nach Salzwasser schmeckenden Schildkrötensteaks? Ich wich allerlei angetriebenen Seeigeln, Fischgerippen und spitzen Muschelteilen geschickt aus, doch der Korb war schwer und ich verlor oft meine Balance. Wir redeten nicht, sondern liefen stumm nebeneinander her. In Gedanken versunken ließ ich meinen Blick über die Dünen schweifen, die noch mehr Seetang und Unrat angespült hatten. Sogar einen pinken Kinderschuh erspähte ich! Trotz meiner Vorliebe für Horrorfilme lief mir wieder eine Gänsehaut auf. Hoffentlich war einem Kind der Schuh nur unvorsichtigerweise vom Fuß gerutscht. Doch dann erblickte ich etwas Unbekanntes, das ich während meiner Reisen nach Kuba noch nie gesehen hatte. Neugierig hielt ich inne und bückte mich nach dem Objekt. Halb im Schlamm und im nassen Sand vergraben lag ein grauer steinähnlicher Gegenstand, nicht größer als meine Hand. Eigenartig waren die Bearbeitungsspuren und dessen Form; zwei weiße Muscheln waren daran eingetieft worden, fast so als würde eine menschliche Physiognomie suggeriert werden. Ich streckte meine Finger zaghaft danach aus, als E. hinter mich getreten war und mir über die Schulter schaute. „Lass das!“ Der Ausruf von E. erschreckte mich kurz und fragend blickte ich hoch. Doch E. schien nicht in Erklärlaune zu sein und zuckte nur die Schultern. Daher befreite ich das Objekt von Schmutz und wusch es im Meer sauber. Es war tatsächlich eine Skulptur eines halben Kopfes, der aufgestellt ein halbes Gesicht zeigte. Die andere Hälfte schien abgebrochen worden zu sein. Das Innere zeigte eine Aushöhlung und dunkle Verschmierungen, die ich als Brandspuren identifizierte. Doch E. schwieg noch immer, drehte mir den Rücken zu und ging weiter Richtung Haus. Kopfschüttelnd folgte ich, bis wir den großen Garten des Strandhauses betraten, wo uns die Mutter von E. schon begrüßte.

 

„¡Muéstrame lo que has encontrado!“3, sagte sie herzlich, als sie den vollen Korb sah.

 

 

Lächelnd zeigte ich ihr meine Funde. Begeistert legte sie die Fächerkorallen und bunten Muscheln zur Seite, denn daraus würde sie später etwas basteln. Sie schüttelte den Kopf über den Fund des Schildkrötenschädels oder des Rückgrats eines größeren karibischen Fisches – wenn es nach ihr ginge, würde das wohl alles im Müll landen. Dann hob sie das steinerne Objekt auf. Zuerst verzog sie die Stirn, dann wurde sie kreidebleich und ließ es mit einem erstickten Aufschrei in den Korb zurückfallen. „¡Déjalo ya! ¡Tíralo!“4, rief sie und wich zurück. Verständnislos, aber nun aufgrund ihrer Reaktion doch etwas alarmiert, rief ich nach E.

 

 

E. trat in die Küche und erfasste die Situation. Seufzend kam die knappe, aber wenig aufschlussreiche Erklärung: „Das ist Elegua.“ „Wer ist Elegua?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Erst dann führte E. weiter aus, dass es sich bei Elegua um den Gott der Wege in der Yoruba-Religion handelte. Ein Kindskopf wird aus Steinmasse geformt und vor das Haus gestellt, und darin werden Kräuter verbrannt, um böse Geister fernzuhalten. Damit füttert man ihn und zieht ihn wie ein Kind auf. Er ist der Schutzgeist des Hauses, aber nur für bestimmte Zeit; dann wird er ausgetauscht und weggeworfen, damit die bösen Geister weichen. „Aber du hast einen von ihnen wieder mit ins Haus gebracht, das ist kein gutes Omen.“, endete E. Wütend funkelte ich E. an. Auch wenn ich selbst nicht abergläubisch war, so hätte ich dennoch sichergestellt, dass meine Gastgeberin den Kopf nicht sehen würde! „¡Dile que lo tire!“5, meinte die Mutter von E. immer noch aufgebracht. „¡Es irrespetuoso!“6

 

 

Als respektlos wollte ich nicht hingestellt werden, doch ich tat ihr den Gefallen und schwor, mir bei nächster Gelegenheit ein Buch über die Yoruba und die Orishas, ihre Götter, zuzulegen. Scheinbar sprach sich dieses Ereignis herum, und ich wurde als die ahnungslose Ausländerin abgestempelt, die noch viel zu lernen hatte. Das stimmte natürlich, und ich hatte auch dazugelernt: Als ich später ein ähnliches, aber viel kleineres Objekt am Strand entdeckte, ließ ich es unbemerkt in meine Jackentasche gleiten um es später, in meinen heimischen vier Wänden, genauer zu studieren.

 

 

Warum betrachte ich diese gesammelten Stücke noch immer mit dem Auge einer Entdeckerin, während mir dieses eine bestimmte Objekt stets eine Gänsehaut über den Rücken jagt? Bis heute weiß ich nicht, ob das Geschenk von E. ein Segen oder ein Fluch ist.

 

 

1Archäologie-Institut des alten Stadtviertels von Havanna

 

2„Ein seltsames Mädchen!“

 

3„Zeig mir, was du gefunden hast!“

 

4„Wirf es weg!“

 

5„Sag ihr, sie soll es wegwerfen!“

 

6„Es ist respektlos!“