Sonia Yavari wurde 1984 in Teheran geboren, studierte Übersetzung und Sprachwissenschaft in Schweden, Österreich und im Iran und arbeitete für viele Jahre als Trainerin und Dolmetscherin für Migrantinnen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und Sohn in Österreich.

 

 

Mein Viertel: Die Zeit

 

 

 

Ich denke schon oft an meine Kindheit im Iran. Die meiste Zeit war sehr schön, oder vielleicht denke ich nur an die guten Erinnerungen? In den letzten Jahren bin ich sehr oft umgezogen von einer Wohnung zur anderen, von einem Land zum anderen. In meiner Kindheit bin ich nie umgezogen. Wir waren immer in meinem Geburtshaus. Wir sind auch nicht viel vereist. In meinen Sommerferien sind wir meistens in Teheran geblieben. Meine Kusinen und Tanten, die im Süden lebten, haben uns aber besucht und sind einen Monat, manchmal zwei Monate bei uns geblieben! Meine Geschwister und ich waren glücklich, Besuche zu haben.

 

Neben dem Haus, wo ich geboren und aufgewachsen bin, war ein Grundstück, das nicht dem Staat gehörte. Unser Nachbar meinte immer, dass dieses Grundstück einen im Ausland lebenden Besitzer habe. Solange unser Nachbar lebte, hat er nie erlaubt, dass dieses Grundstück bebaut, geändert oder benutzt würde. Auch Autos durften nicht am Grundstück parken. Heute ist aus dem Grundstück ein Park geworden. Vor dem Park stehen viele Autos eng nebeneinander.

 

Die Nachbarschaft der Straße, in der ich aufgewachsen bin, war in zwei Schichten geteilt: in die Mittelschicht und in die Unterschicht. Unser Haus lag genau in der Mitte. Die Kinder, mit denen ich gespielt habe, kamen aus beiden Schichten. Die Häuser der Mittelschicht waren sehr schön, meist mit einem kleinen Garten und Swimming Pool. Die Häuser der Unterschicht waren klein und lagen nebeneinander an engen, ganz steilen Gassen. In der Mitte der engen Gassen befanden sich schmale Wasserrinnen.

 

Heute hat sich alles geändert. Viele der billiggebauten Häuser der Arbeiterschicht wurden abgerissen und stattdessen neue Wohnungen gebaut. Auch der andere Teil wurde neu gebaut. Die schönen alten Häuser wurden leider abgerissen und stattdessen stehen dort jetzt Hochhäuser ohne einen Garten. Und es wohnen jetzt viel mehr Menschen in dieser Nachbarschaft.

 

Nur unser Haus liegt nach wie vor dort, ein altes, zweistöckiges Haus. Von der Größe her passt unser Haus nicht mehr zwischen die Hochhäuser. Die Umgebung hat sich geändert. Auch die Stimmung. Früher konnte man aus dem Fenster unserer Küche das fantastische Elburs-Gebirge sehen, aber jetzt sieht man leider nur mehr Wohnungen.

 

Viele Nachbarn von meiner Kindheit sind umgezogen oder ins Ausland übersiedelt. Die neuen Nachbarn kenne ich nicht mehr. Eigentlich kennen sich die Nachbarn auch nicht, wie in allen großen Städten. Meine Eltern sind aber noch dort, in jenem Haus, wo sie seit 40 Jahren wohnen und wo ich geboren wurde. Ich war das einzige Kind in der Familie, das zu Hause auf die Welt kam. Es war anscheinend zu spät um ins Spital zu fahren, sodass meine Oma und meine Tante meiner Mama bei der Geburt geholfen haben. Keine Hebamme war dabei! Jetzt finde ich es sehr mutig von allen drei Frauen, aber als Kind war ich immer traurig, weil ich das einzige in der Familie ohne Ausweis-Armband war. Ich habe meiner Mutter deshalb öfters gesagt, dass sie mich wahrscheinlich adoptiert hätte. Sie hat dann nur gelacht!

 

Als Kind habe ich immer auf der Straße vor unserem Haus mit Nachbarn gespielt. Fußball, Frisbee, Radfahren. Es war schon eine schöne Zeit! Damals konnte man einfach auf der Straße spielen, weil es nur wenige Autosgab. Heute finden nicht mal die Autos einen Parkplatz, geschweige denn, dass die Kinder auf der Straße spielen könnten.

 

Ich bin zwölf Jahre in die gleiche Schule gegangen. Unsere Schule hatte Volksschule, Mittelschule und Gymnasium. Sie lag nah zu unserem Haus. Eine wunderschöne, riesige Schule mit drei Gebäuden und einer Kapelle. Diese Schule ist vor der islamischen Revolution eine französische Schule gewesen, deswegen eine Kapelle. In meiner Kindheit war sie aber eine städtische Mädchenschule nur mit Lehrerinnen, keine Lehrer. Die islamischen Festtage unserer Schule haben immer in der Kapelle stattgefunden. Sie war sehr schön, mit bunten Fenstern.

 

Viele Mädchen aus der Nachbarschaft, sowohl die der Mittelschicht als auch die der Unterschicht, sind in diese Schule gegangen. Zwölf Jahre in der gleichen Schule ist eine lange Zeit. Viele andere Mädchen sind so wie ich von der ersten Volksschulklasse bis zum letzten Gymnasiumsjahr in diese Schule gegangen. Daraus sind viele schöne Freundschaften entstanden, die bis heute anhalten. Meine besten Freundinnen sind immer noch meine Schulfreundinnen, von denen nur sehr wenige im Iran geblieben sind. Sie sind in die USA, nach Kanada, Deutschland, Italien und Australien ausgewandert.

 

Heute ist ein Gebäude von der alten Schule abgerissen und eine neue Schule gebaut worden. Jedes Gebäude ist nun getrennt von den anderen und auch die Namen haben sich geändert. Die Familien der Mittelschicht schicken ihre Kinder nicht mehr in eine städtische Schule, ihre Kinder besuchen Privatschulen.

 

Nach iranischem Recht ist die Polygamie erlaubt. Trotzdem ist sie in großen Städten wie Teheran weniger üblich. Ich habe zumindest nie davon in meinem Freundeskreis gehört. Auch wenn es Männer gibt, die zwei oder mehrere Frauen haben, wohnen die Frauen nicht in derselben Wohnung zusammen. In meiner Nachbarschaft war das aber anders.

 

Dieser Nachbar, der geglaubt hat, dass das Grundstück einen Besitzer hätte, war ein älterer Herr aus der UdSSR. Vor der islamischen Revolution war er ein Lehrer in meiner Schule, also in der französischen Schule. Ein Lehrer in Pension mit zwei Frauen im selben Haus!

 

Öfters saßen die beiden Frauen mit ihrem Mann auf einer Treppe vor ihrem Haus und sie haben wie zwei Schwestern ausgesehen. Wir haben davon gehört, dass der Nachbar im Iran war und die erste Frau, damals noch die einzige Frau, in der UdSSR. Er hat seiner Frau gesagt, dass sie in den Iran kommen soll, aber sie ist längere Zeit nicht nachgekommen. Da hat der Nachbar wieder geheiratet. Erst danach ist die erste Frau in den Iran gekommen, aber leider zu spät. Sie haben viele Kinder gehabt. Wir wussten nie, welches von welcher Frau …

 

Es wäre schon interessant gewesen mehr zu wissen und ob das alles überhaupt stimmte. Aber als Kind hatte ich kein Interesse, seine Geschichte genauer zu kennen. Er hat für mich immer alt ausgesehen. Und woher kam er überhaupt?

 

Heute ist auch sein Haus abgerissen worden, nachdem er gestorben ist und seine Kinder das Haus verkauft haben. Interessanterweise sind auch die beiden Frauen kurz nach dem Tod ihres Mannes gestorben.

 

Wie die Zeit alles verändert hat!

 

 

Überlegungen im Bus

 

 

 

 

Heute habe ich kein Smartphone mit. Ich sitze im Bus und beobachte, wie die Passagiere sich verhalten. Wie viel Abstand halten sie zueinander? Unterhalten sie sich? Wie war es in Schweden oder im Iran?

 

In Zeiten von Corona macht es vielleicht Sinn über Abstand zu schreiben. In verschiedenen Ländern sind kulturell bedingt verschiedene Abstände zwischen Menschen zu beachten. Der Raum, den eine Person im Iran in manchen Situationen braucht, ist sicher anders als der Raum, den eine Person in den gleichen Situationen in Schweden braucht. In manchen Situationen brauchen Iraner*innen mehr Raum und in anderen Schwed*innen.

 

Von 2010 bis 2012 lebte ich als Studentin in Linköping, einer kleinen Universitätsstadt in Schweden. Ich bin öfters mit dem Bus zur Uni gefahren. Am Anfang habe ich mich gleich auf den ersten Sitz, den ich gefunden habe, gesetzt. Das war meistens neben einer anderen Person in der Reihe vorn. Das hätte ich im Iran auch gemacht. Es passiert im Iran oft, dass die Personen, die nebeneinandersitzen, zu plaudern beginnen. Meistens über Alltagsthemen, Politik, Wetter usw. In Schweden habe ich jedoch nach einiger Zeit bemerkt, dass die Person neben mir mich so komisch anschaut oder mich gar nicht anschaut. Es hat einige Zeit gedauert bis ich begriffen habe, dass da die Regeln anders sind. Jede*r Passagier*in setzt sich auf einen Sitz, in eine Reihe, wo kein anderer sitzt. Das heißt in jeder Reihe sitzt nur eine Person. Das bedeutet, in Schweden können sie erst eine zweite Person dazu nehmen, wenn alle Reihen mit einer Person besetzt sind. Setze ich mich vorher neben eine andere Person, fühlt sich diese Person bedroht. Warum setzt sich eine Fremde neben mich? Es gibt doch so viele freie Plätze!

 

Anfangs fand ich es komisch. Mögen die Schwed*innen keine Kommunikation? Man möchte einfach Smalltalk machen. Damals waren Smartphones noch nicht so rasant verbreitet, dass man sich in Öffis anders hätte beschäftigen können. Nach einiger Zeit bin ich aber mit den Busregeln in Schweden gut zurechtgekommen. Ich habe dann auch begonnen dasselbe zu machen, das heißt, mich immer in eine menschenlose Reihe zu setzen. Jetzt mag ich es auch nicht, wenn im Bus viele Plätze frei sind, und eine Person setzt sich gleich neben mich. Was will sie von mir?

 

Ich habe oft gehört, dass Nordeuropäer zu ihrem Gegenüber mehr Abstand halten. Dem kann ich aber nicht zustimmen. Abstände hängen von der Situation ab. Bei einer Situation, wo Iraner*innen mehr Abstand brauchen, halten Schwed*innen weniger Abstand und umgekehrt.

 

Begrüßung braucht aber in Schweden tatsächlich einen anderen Körperabstand als im Iran. Die Schwed*innen umarmen sich zur Begrüßung. Das passiert im Iran sehr selten. Wenn überhaupt, dann nur, wenn die zwei Personen sich schon lange nicht gesehen haben und sich nahestehen. Bei besserer Bekanntschaft gibt man sich zur Begrüßung im Iran zwei, manchmal drei Küsse auf die Wange, und das sehr oft nur zwischen Personen gleichen Geschlechts. Ob es zwei oder drei Küsse sind, weiß keiner!

 

Später, am Anfang in Schweden, wenn der Cousin meines Mannes mich umarmte, habe ich mich schon etwas unwohl gefühlt. Ich habe ihn erst kennengelernt. Das war mir zu viel Nähe. Jetzt kenne ich mich aber aus. Jedes Mal, wenn ich in Schweden meine Verwandten besuche, weiß ich, wie dort die Regeln sind. Ich mag es in der Zwischenzeit, jetzt manche Leute zu umarmen, auch die vom anderen Geschlecht.

 

Ich hasse es allerdings, wenn ich im Iran zu Besuch bin und allen Bekannten und Verwandten, die in einem Raum sind, drei Küsse geben zu müssen! Das dauert so lange. Wird sich das nach Corona ändern? Wie?

 

Können Schwed*innen sich an die drei Küsse auf die Wange im Iran gewöhnen? Oder ist ihnen das zu viel Nähe?

 

Ich sitze immer noch im Bus und mir ist langweilig. Hätte ich doch mein Smartphone mitgebracht!