Ramazan Kemal Kulaksiz(BA)wurde 1993 in Wien geboren. Er studierte Klassische Archäologie und ist jetzt Student der Kunstgeschichte an der Universität Wien. Neben dem Studium ist er als Tutor im Technischen Museum Wien tätig. Seit jeher ist das Schreiben von Gedichten und unterschiedlichen Textformen seine Leidenschaft.

 

Das Viertel mein

 

 

Was ist mein Viertel? Wo ist mein Viertel? Wo setze ich an? Am besten am Anfang!

 

An einem kalten Februartag erblickte ich im dritten Wiener Gemeindebezirk das Licht der Welt. Die Sterne hatten sich nicht nur dazu entschlossen, mich zu einem Fisch mit Aszendent Skorpion zu machen, sondern hatten auch über mein erstes Viertel, so dachten sie, das Machtwort gesprochen.

 

Ich wuchs im Wildganshof auf, der nach Anton Wildgans, einem ehemaligen Dichter und Direktor des Burgtheaters, benannt wurde. Fünfundzwanzig Jahres meines Lebens verbrachte ich in dieser, von außen an eine Festung erinnernde, Gemeindebauanlage, die innerhalb in mehrere Höfe mit Grünfläche unterteilt war. Mein Zimmer lag im ersten Hof, der sich direkt hinter dem Haupteingang, ein altes und verrostetes Eisentor, befand. Vor meinem Fenster erstreckte sich eine alte Linde, mit ihren verquere Ästen, gen Himmel. Viele Jahre sah ich, wie die Jahreszeiten ihr das Leben aus den noch so dünnen Kapillaren trieben, nur um es später erneut einzuhauchen. Wie sich der Schnee auf den dünnen und schwachen Ästen zu kleinen Bergen häufte, die unter der Last mit einem kläglichen Ächzen nachgaben und entzweibrachen. Wie Knospen zu Blättern und Blüten wurden, nur um mit der Sommerbrise einen Tanz der Liebe einzugehen und dann wieder zu verwelken.

 

Während die anderen Hofkinder stets rausgingen und miteinander spielten, verbrachte ich meine Zeit lieber in meiner eigenen Welt, am Schreibtisch vor dem Fenster, das beinahe immer sperrangelweit offenstand, da ich es liebte, die kalte Luft auf meiner Haut zu spüren und den zischenden und sausenden Wind, der die Hofbewohner in ihre Wohnungen trieb, zu hören. Meine eigene Welt bestand aus Palästen, deren Mauersteine Bücher waren. In ihren plätschernden Wasserbecken schwebten meine Ideen wie feiste und saumselige Fische mit fächerartigen silbernen Flossen durch das kristallene Wasser. Der Himmel, die Sonne, Gebirge und Gewässer meiner Welt waren von ungebrochen-gediegenen Farben, die jeden mit ihrer maliziösen Leuchtkraft blenden würden, wenn ihnen auch nur ein einziger Blick vergönnt gewesen wäre. Und inmitten dieser geheimen Welt und zwischen den Palästen ragte ein Elfenbeinturm mit einer goldenen Kuppel, unter der ich Zuflucht und Geborgenheit suchte, in die Wolkenbank hinauf. Aber selbst hier erreichten mich die Stimmen aus der realen Welt.

 

„Ruhe, ihr Tschuschen! Schleicht euch zurück. Nichts als Abschaum“, brüllte ein uralter Pfarrer immer wieder und holte mich damit jedes Mal zurück in den Wildganshof.

 

Ja, gewiss, gegen das mir von den Gestirnen zugesprochene Viertel wehrte ich mich mit Vehemenz. Mich gegen die kosmische Gewalt auflehnend, erschuf ich mir mein eigenes Viertel und stahl mich, wann immer ich auch konnte, in diese Welt jenseits von Vernunft und Verstand.

 

Die Wände der Anlage waren von einer groben sandigen Struktur; manche, einst hellbeige Flächen, hatten sich durch den Schmutz, der vom Regenwasser herabgetragen wurde, grau verfärbt. Ich stellte mir immer vor, dass es nicht der Schmutz, sondern der Schmerz und die Wunden waren, die sich jedes Mal wie ein Pesthauch über den Hof legten, wenn Menschen wie der Pfarrer den unschuldigen Seelen der Kinder durch solche Sätze Leid hinzufügten. Eine alte Dame, sogar, pflegte immer einen Eimer, gefüllt mit heißem Wasser, von ihrem Balkon über die Kinder zu leeren, die darunter standen und lärmten. All das erreichte mich in meinem imaginären Turm, der mir doch Asyl vor diesen Ereignissen gewähren sollte. Im Laufe meines Lebens lernte ich, dass kein Elfenbeinturm der Welt mich vor solchen Abscheulichkeiten bewahren konnte.

 

Was und wo war nun mein Viertel? War ich ein viertelloses Wesen, das dazu verdammt war auf ewig verloren umherzuwandern? Den Ansatz auf diese Antwort bekam ich, als ich mit vierundzwanzig Jahren das erste Mal alleine nach Istanbul reiste. Zuvor war ich nur im Rahmen von Familienurlauben in der europäisch-asiatischen Metropole gewesen und konnte vor Bekanntenbesuchen die Stadt kaum wahrnehmen, aber das sollte sich ändern. Neugierig erkundete ich jede Straße, jede Gasse, sprach mit wildfremden Menschen, ging durch den Großen Basar und Ägypten-Basar, stecke meine Nase in Gewürze, setzte mich vor osmanische Moscheen und Paläste sowie byzantinische Kirchen und studierte diese akribisch. Innerhalb von nur zwei Wochen versuchte ich die Stadt und ihre Historie gänzlich in mich aufzusaugen. Zurück in Wien spürte ich, dass meine verkümmerten Wurzeln wieder zum Leben erwacht waren; sie verliefen unter den Straßen Istanbuls, wie ein Geflecht an Nerven- und Blutgefäßen breiteten sie sich immer mehr aus. Ich hatte einen Teil von mir dort zurückgelassen und einen Teil von ihr mitgenommen.

 

Dies jedoch war nur der Ansatz einer Antwort, die sich allerdings in Kairo zu einer vollständigen entwickeln sollte. Nach drei Jahren Arabisch-Lernen und einem Kurzurlaub hatte ich mich dazu entschlossen, für zwei Monate einen Sprachkurs in Kairo zu belegen. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass mich die dynamische Stadt auf geistiger Ebene regelrecht perforiert hat. Wie eine Lanze durchbrach sie mein Fleisch, mein Sein. Durch meine Adern floss nun der Nil.

 

Als ich mich in Wien nach langer Zeit wieder einmal in meiner eigenen Welt verschanzte, bemerkte ich etwas Erstaunliches. Sie hatte sich vollkommen verändert. Der Galataturm und der Kairoer Turm flankierten meinen weiß leuchtenden Elfenbeinturm. Um sie standen die Pyramiden von Gizeh, die Sphinx, die Ayasofya und Sultan-Ahmed-Moschee, der Topkapı-Palast und vieles mehr. Auch der Nil und Bosporus waren hier und funkelten türkis unter der Sonne. Nun verstand ich, dass weder die Gestirne noch sonst wer die Macht hatte, zu entscheiden, was mein Viertel war und wo es war. Mein Viertel trug ich in mir, ich war mein Viertel und ich entschied, was zu meinem Viertel gehörte und was nicht.