Pedro Muñoz Gerdau (Peru/Deutschland) ist ein peruanischer Autor mit Wohnsitz in Berlin. Er wurde in Lima, Peru, geboren. Sein Hochschulstudium absolvierte er an der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru sowie an der Freien Universität Berlin.Er wurde mit dem ersten Preis bei den Literaturwettbewerben der ANADE-Stiftung und des Verlags Simurg ausgezeichnet und belegte den dritten Platz beim Kanaya-Literaturwettbewerb.

 

 

 

 Deutsch

 

 

DER LETZTE DALMATINER

 

Tuone kam weinend die Treppe des alten Vikla-Klosters herunter; er wusste, dass dies das Ende einer Ära und praktisch einer ganzen Zivilisation war. Seine Eltern waren die einzigen Menschen, mit denen er noch Dalmatinisch sprechen konnte, und nun war seine Mutter verstorben. In seinem Kopf konnte er keine Ideen auf Slawisch entwickeln. All seine Gefühle, all seine Emotionen, Schreie, Ängste, Sorgen und Freuden konnte er nur in der dalmatinischen Sprache ausdrücken. Seine Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen waren in den österreichisch-preußischen Kriegen oder an Infektionskrankheiten gestorben. Er ging schnell zur Kirche St. Quirinus, wo er wie seine ganze Familie getauft worden war, kniete nieder und begann zu beten.

 

Die einzige Möglichkeit, seine Sprache zu behalten, wäre es Monologe mit sich selbst zu führen. Seit seine Mutter krank geworden ist, wusste er, dass seine Muttersprache aussterben würde, wenn er nicht mit sich selbst sprach. Wie Aramäisch oder Latein oder all die Sprachen, deren Aussterben bereits angekündigt wurde, sobald der Sieger des Krieges die Stadttore betrat.

 

Er dachte darüber nach, wie er Liebe übersetzen könnte, wie er seiner Mutter gesagt hätte, dass er sie liebt, wenn sie noch am Leben wäre; wie er die Nachspeisen und traditionellen Gerichte seiner Großmutter gelobt hätte. Wie er seinem Kindheitsfreund Tocop gesagt hätte, dass er ein Eselskopf ist, oder wie er mit seinen Tanten das Vaterunser beten oder den nächtlichen Segen seinem Tata empfangen würde.

 

Er spielte mit dem Gedanken, nach Dubrovnik zu reisen, weil er hoffte, dass es in irgendeiner Ecke der Stadt jemanden geben würde, der seine Muttersprache spricht. Aber dann erinnerte er sich daran, dass sein Vater ihm erzählte, dass er bei seiner letzten Reise dorthin feststellte, dass alle Verwandten gestorben oder nach Südamerika ausgewandert seien. Er würde zur Kirche San Donato pilgern, um dort um Rat zu fragen, oder vielleicht in die Berge gehen, aber die Idee, das Meer Richtung Kontinent mit dem Boot zu überqueren, erschien ihm absurd. Er war ein armer Barbier und wer würde sich außerdem um das Haus und die Tiere kümmern. Die Nachbarn waren alle älter, denn die jungen Leute hatten die Insel verlassen, um in den großen Städten wie Wien oder Pest zu arbeiten. Während er in seine Gedanken vertieft war, hörte er eine Meute von Tieren an der Kirche vorbeiziehen, die mit ihren Herren auf der Jagd waren. Ein Haustier, dachte er, würde ihn vielleicht nicht nur von der Einsamkeit befreien, sondern auch davon, seine Muttersprache zu verlieren. Er würde zu den Zigeunern gehen, um zu einem guten Preis diese schwarz gefleckten weißen Hunde zu kaufen, die im Dorf so viel Spott und Hohn hervorriefen. Ja, er hatte sie als Meutehunde gesehen und gehört, dass sie sehr treu waren, gute Jäger und Wächter. Und zumindest hatten sie die gemeinsame geografische Herkunft von der heute so genannten Insel Krk in Dalmatien.

 

Als er nach Bavol ging, schauten ihn die anderen Zigeuner, die trinkend und rauchend dasaßen, teilnahmslos an, als er vorbeiging. Tuone ging zum Anführer des Stammes und grüßte ihn. Er war es gewohnt, mit ihnen Geschäfte zu machen, nicht immer sehr koscher, wie zum Beispiel, wenn sie die Nagerplage schlachteten, die das Lager plagte. Die Beziehung war jedoch sehr herzlich und von gegenseitigem Respekt geprägt.

 

Er erklärte ihm das Problem und Bavol lachte und schickte nach einem jungen Hund. Er war nicht älter als zwei Jahre und erzählte ihm, dass er ein schwachsinniger Welpe sei und nie wisse, was los sei, geschweige denn, dass er gehorche, wenn man ihm etwas auftrage. Er hatte einem Offizier des Kaiserreichs gehört, der möglicherweise im Gefecht gestorben war. Sie hatten es der Witwe gekauft. Es würde ihn zwanzig Heller kosten, oder ein Hundertstel einer Krone oder zwei Hundertstel eines Florins, denn die Währungsumrechnung in Österreich-Ungarn war jetzt ein Albtraum. Der alte Mann fügte hinzu: kein Platz für eine Rückerstattung.

 

Tuone stimmte zu und ein Junge band den Hund an ein Seil und gab ihn ihm. Der kleine Junge erzählte ihm, dass er auf den Namen Chal getauft worden war. Der Hund stand rechts von ihm, als er ging, und folgte ihm ohne Protest. Der Weg war nicht sehr lang, aber beschwerlich. Tuone redete und redete, aber der Hund schaute ihn ungläubig an. Als sie eine Furt erreichten, sah er, dass die Strömung gestiegen war und schrie ihn ohne nachzudenken an, diesmal auf Dalmatinisch, „Dai!“, und der Hund blieb sofort stehen. Er forderte ihn in derselben Sprache auf, eine niedrige Stelle zum Überqueren des Flusses zu finden, woraufhin der Hund das Wasser von einer Seite zur anderen umging, bis er die seichteste Stelle erreichte. Der Hund überquerte den Fluss sicher und setzte sich auf der anderen Seite auf seine Hinterbeine, um auf ihn zu warten. Tuone zog seine Schuhe und Socken aus und ging auf die andere Seite. Er nahm einen Knochen aus seiner Tasche und reichte ihn dem Hund. Der Hund nahm ihn in sein Maul und lief weiter an seiner Seite. Er hatte den letzten Hund entdeckt, der die dalmatinische Sprache verstand.

 

 

 

 

Übersetzt vom Autor

 

English

 

 


THE LAST DALMATIAN

 


Tuone descended the stairs of the old Vikla Monastery crying; he knew that this was the end of an era and possibly the end of an entire civilization. His parents were the only people he could still speak Dalmatian with, and now his mother had passed away. In his head, he couldn't formulate any ideas in the Slavic language. All his feelings, his emotions, his cries, his fears, his sadness and joy, could be expressed only in Dalmatian. His grandparents, uncles, aunts, and cousins had died either in the Austro-Prussian Wars or from infectious diseases. He walked quickly to the church of San Quirinus where, like his entire family, he had been baptized; once there, he knelt and began to pray.

The only way to keep his language would be to monologize. Ever since his mother fell ill, he knew that if he didn't talk to himself, his native language would become extinct, like Aramaic, Latin, and all the other languages whose extinction was already ensured as soon as the victor entered the city gates.

He thought about how he would translate love, how he would have told his mother that he loved her if she were still alive, how he would have praised his grandmother's desserts and traditional dishes. He wondered how he would have told his childhood friend Tocop that he had the head of a donkey, or how he would pray the Lord's Prayer again with his aunts or receive the nightly blessing from his Tata.

He considered traveling to Dubrovnik, because he hoped that in some corner of the city there was someone who spoke his language. But then he remembered what his father had told him on his last trip to that city: that he had discovered that all his relatives had died or emigrated to South America. He would make a pilgrimage to the church of Saint Donatus to ask for advice or perhaps set out for the mountains, but the idea of crossing by boat to the continent seemed absurd. He was a poor barber and besides, who would take care of the house and the animals? The neighbors were all older, because the young people had left the island to go to work in big cities like Vienna or Pest. While he was absorbed in his thoughts, he heard a pack of animals passing by the church, marching with their masters to the hunt.

He thought that maybe a pet would relieve him not only of his loneliness, but also of the loss of his native tongue. He decided to go to the gypsies for a good price on those white dogs with black spots that caused so much ridicule and mockery in the town. Yes, he had seen them as pack dogs, and he had also heard that they were very faithful, good hunters and guardians. And at least he would share with them the common geography of coming from the island now known as Krk in Dalmatia.

When he went to Bavol, the other gypsies were sitting around drinking and smoking; they looked at him impassively as he walked by. Tuone reached the head of the tribe and greeted him. He was accustomed to doing business with them, not always smooth, like when they massacred the plague of rodents that devastated the countryside. However, their relationship was cordial and mutually respectful.


He explained the problem and Bavol laughed and sent for a young dog. The dog was no more than two years old, and Bavol told him that it was just an idiotic puppy who never knew what was happening, much less obeyed when given a command. It had belonged to an Imperial officer who had probably died in the campaign, and was taken from his widow. The price was twenty Hellers, or one hundredth of a Krone, or two hundredths of a Florin. Currency conversion in the Austro-Hungarian Empire had become a nightmare. The old man added: a return was not possible.

Tuone accepted the conditions; a boy tied the dog to a rope and gave it to him. The little boy told him that they named him Chal. The dog stood to his right as he walked and followed him without objection. The road was not very long but it was difficult. Although Tuone spoke to the dog continuously, it looked at him without comprehension. When they reached the river he saw that the tide had risen and he shouted at the dog without thinking, this time in Dalmatian: ”Dai!” The dog stopped immediately. When Tuone asked him in the same language to find a low place to cross the stream, the dog skirted the water from one side to the other until he reached the shallowest part. The dog carefully crossed to the other side and sat on its hind legs, waiting for him. Tuone took off his shoes and socks and crossed to the other side. He picked up a bone he had in his pocket and gave it to him. The dog chewed the bone and continued walking alongside him. He had discovered the last dog that understood the Dalmatian language.