Jelena Semjonowa-Herzog (Belarus/Österreich), geb. 1981 in Minsk, Lyrikerin, Schriftstellerin, Übersetzerin, Dolmetscherin, Literaturwissenschaftlerin und Lehrerin, studierte Übersetzen und Dolmetschen in Minsk, promovierte in Wien. 2006 erschien in Minsk ihr Lyrikband „Die Tropfen des Lichtes“. 2022 erschien er auf Deutsch in ihrer Übersetzung (Korrektur Verlag). Sie schreibt auf Deutsch, Russisch und Belarussisch, übersetzt Lyrik und Prosa. Publikationen in Periodika und Buchpublikationen in Belarus, Österreich und Deutschland. Vorstandsmitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer, Mitglied des PEN Austria, der IG Autorinnen Autoren etc. Stellvertretende Obfrau der Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur. Mitherausgeberin der bilingualen Literaturzeitschrift „Worte und Welten“. Lebt und arbeitet in Wien.
Deutsch
DER LEBENSBAUM MEINER NÄCHSTEN
Draußen blüht und grünt es.
Der Frühsommer ist da,
mich fröstelt aber.
In meiner Seele
weht ein rauer
Novemberwind.
Die geliebten Menschen
fallen ab
wie Blätter von den Bäumen.
Die mir von Kindheit an
vertrauten Gesichter
sehe ich fast nur noch
auf Fotos.
Der Lebensbaum
meiner Nächsten
trägt kaum Blätter.
Alle gehen.
Niemand kommt.
Immer mehr Handynummern
sind neu vergeben.
LINDENDUFT
Dieser betörende Duft.
Wieder blühen die Linden.
Wie damals,
während der Urlaube
am Narotschsee.
Sie blühten in meinem Monat,
im Juli.
(In Wien blühen sie früher,
im Juni.)
Lindenblütentee,
Sonnenuntergänge am See,
verträumte Abende,
fröhliche, sonnige Morgen.
Geburtstagsfeste am großen Tisch
draußen vor dem Holzhaus,
unserem Urlaubsdomizil
das uns alle beherbergte,
immer im Juli,
immer die gleichen Leute.
Kinder und Erwachsene
gemeinsam am Tisch,
heiteres Lachen,
Witze und Spiele.
Abends Angeln vom Boot.
Vater und ich
starren wie gebannt
auf den Schwimmer.
Musikfetzen von der Tanzfläche
des Sanatoriums,
ab und zu vom Wind herübergeweht,
betonen die gemütliche Stille
um uns.
Zurück am Ufer
empfängt uns
Mutter –
und der Lindenduft.
Übersetzt von der Lyrikerin
Russisch
ДЕРЕВО ЖИЗНИ МОИХ БЛИЗКИХ
На улице всё цветёт и зеленеет.
Лето пришло,
а мне зябко.
В душе
веет суровый
ноябрьский ветер.
Любимые люди
опадают,
словно листья с деревьев.
С детства мне знакомые
лица я вижу
почти только лишь
на фотографиях.
На дереве жизни
моих близких
почти нет листьев
Все уходят.
Никто не приходит.
Всё больше мобильных номеров
сменили владельцев.
АРОМАТ ЛИП
Этот пьянящий аромат.
Снова цветут липы.
Как прежде,
во время отпусков
на озере Нарочь.
Они цвели в моём месяце,
в июле.
(В Вене они цветут раньше,
в июне.)
Липовый чай,
закаты на озере,
мечтательные вечера,
полные радости и солнца утра.
Дни рождения за большим столом
на улице перед деревянным домиком,
нашей отпускной обителью,
которая давала приют всем нам,
всегда в июле,
всегда одним и тем же людям.
Дети и взрослые
за общим столом,
весёлый смех,
шутки и игры.
Вечером рыбалка с лодки.
Папа и я
как зачарованные смотрим
на поплавок.
Обрывки музыки с танцплощадки
санатория,
приносимые ветром,
ещё больше подчёркивают
уютную тишину
вокруг нас.
На берегу
нас встречает
мама –
и аромат лип.